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Florian Gantner: Soviel man weiß.

Leseprobe:

Als der Griff der Plastiktasche in seine Handfläche zu schneiden beginnt, stellt Illir Zerai die Einkäufe ab und betrachtet die roten Striemen. Die Sommersonne liefert hervorragendes Licht. Zerai dreht seine Hand und blickt lange auf den Handrücken. Adern, Altersflecken, sonst ist nichts zu erkennen. Dann begutachtet er die roten Stellen an seinem Unterarm. Eine dichte Hülle ist die Haut.
Wie lange man mit ein und derselben Haut durch die Welt läuft. Während Schlangen ohne viel Aufhebens ihre Haut abwerfen. War das Albaner-Sein nicht wie eine aus Volk-Partei-Staat zusammengesetzte Haut, die er problemlos abgestreift hat? Einzig die sogenannten
Gedanken der Volksphilosophie konnte er nie abschütteln. In Alltagssituationen schießen sie ans Tageslicht.
Etwa damals, als er genau hier auf der Quellenstraße von einem jungen Mann angerempelt wurde. Anstatt sich zu entschuldigen, warf ihm der Mann nur einen verächtlichen Blick zu.
Beleidigt dich dein Feind, bedeutet es, dass du dich auf dem rechten Weg befindest – so eine der Redensarten, die jeder Albaner mit der Muttermilch aufsaugt. Eine andere Parole kommt ihm in Erinnerung: Der Fluss schläft, aber der Feind schläft nie. Bei genauerer Betrachtung ein Unsinn. Ein Fluss schläft nicht. Er ist immer in Bewegung, sonst wäre er kein Fluss, sondern ein Tümpel. Diese vermeintliche Weisheit der Alten – weit kann es damit nicht her sein. Inzwischen ist er selbst alt, da braucht er keine fremden Scharfsinnigkeiten mehr. Wenn er in seinem Alter noch keine Lebensweisheit erworben hat, wird das auch nichts mehr.
Obwohl er so viel von Volk-Partei-Staat gehört hat, dass es für ein Leben reichen sollte, lassen sich diese Phrasen nur schwer verscheuchen. Kaum spürt er den Schmerz im Knie, hört er den albanischen Ausspruch
Wer leidet, der lernt. Nun ja, er hat auch wirklich gelernt, sein rechtes Knie weniger zu belasten und keine abrupten Drehbewegungen zu machen. Beim Aufsperren der Haustür streift sein Blick das Klingelschild. Die deutsch, türkisch oder slawisch anmutenden Namen sind für ihn die Definition von Europa. Selbst sieht sich Zerai aber keineswegs als Europäer. Es ist komplexer.
Nachdem er dem Albanertum, das für ihn nur mehr aus Volk-Partei-Staat bestand, abgeschworen hat, begann Zerai, sich als
Enklave zu betrachten. Außer dem Vatikan, San Marino oder Kaliningrad gibt es in seiner Wirklichkeit noch eine Enklave namens Illir Zerai. Illir Zerai liegt in Wien.
Doch Illir Zerai ist nicht irgendeine Enklave. Da die Stadt Wien selbst eine Enklave in Niederösterreich ist, handelt es sich bei Illir Zerai genau genommen um eine Doppelenklave. Diese Doppelenklave befindet sich hinter Tür 2, Quellenstraße 63.

(S. 16-18)

© 2021 Residenz Verlag, Salzburg-Wien

 

 

 

 

 

 

 

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