Leseprobe
Die unglaubliche Großzügigkeit der Natur in jeder ihrer Erscheinungen, sagte eine andere Studentin, die bis dahin etwas abseits gestanden war, das sei es, das sie immer schon fasziniert habe. Ginge es nicht auch mit weniger Formen, weniger Arten, weniger Reichtum bis ins kleinste Detail? Natürlich, sagte sie, sie wisse schon, die Anpassung jeglicher Lebensform an ihre Umgebung, an veränderte Umgebungen, Darwins Finken, Losos Echsen, und dennoch staune sie immer wieder über die, ja, verschwenderische Fülle, die sich in all dem zeige. Sie frage sich, ob nun Grausamkeit oder Weisheit in dieser Bilanz des Todes liege, oder eine gleichgültige, erbarmungslose Kälte? Die begleitende Professorin runzelte die Stirn. Es gehe nicht an, sagte sie, evolutionäre Entwicklungen mit Emotionen zu beladen. »Die Natur« denke nicht, sie urteile nicht, also könne man ihr weder Weisheit noch Grausamkeit und auch nicht Gleichgültigkeit unterstellen, auch Gleichgültigkeit fordere eine Bewusstheit, die Natur sei aber keine sich ihrer selbst bewusst seiende Wesenheit, oder sehe sie das anders? Die Studentin errötete. Sie fingerte an ihren Haaren, die Professorin wandte sich ab. »Nicht wie Menschen denken, nein«, sagte die Studentin. Aber müsse man die Natur, oder eben das Verständnis der Natur, die schöne Ausgewogenheit funktionierender Ökosysteme, die unglaubliche Vielfalt der Formen auf rein technisches Funktionieren beschränken? Sei nicht auch eine Weisheit in jeglicher Entwicklung? Vielleicht sogar etwas, das man Liebe nennen könne, so aufeinander bezogen sei alles eingerichtet? Und könne nicht auch das Staunen der untersuchenden Subjekte, also: unser Staunen, ein möglicher erkenntnistheoretischer Zugang sein? Die Professorin schnaubte. Ob der Studentin klar sei, dass sie sich hier nahe am Kreationismus bewege, »wabernd«, sagte sie, »ganz und gar unwissenschaftlich«, und das, religiöse Aufladung biologischer Prozesse, könne sie ganz und gar nicht akzeptieren.
»Aber ... «
(Seite 11 ff.)
© 2021, Picus Verlag, Wien