Leseprobe:
»Ich bin wegen der Verordnung hier.«
»Der Verordnung?«
Annemarie hielt Friedrich die Innsbrucker Nachrichten hin. Der Professor las laut vor:
»Amtliche Bekanntmachungen. Der Oberbürgermeister der Gauhauptstadt Innsbruck – Ah vom Denz Erwin, ausgezeichnet. Die darf auf keinen Fall vernachlässigt werden.« Und er kommentierte die wichtigsten Stellen, um ihre Bedeutung noch etwas zu steigern. »Kartoffelkäfer-Abwehrmaßnahem auf gärtnerisch genutzten Grundstücken – sehr gut. Ein wichtiges Thema! – Zur Abwehr des Kartoffelkäfers gilt auch der Stadtkreis Innsbruck als Überwachungsgebiet. Der Überwachung dient in erster Linie die Einrichtung eines regelmäßigen Suchdienstes für die Dauer der Wachstumsperiode vom Hervorkommen der Kartoffel – oder auch Tomatenpflanzen – bis zu ihrem Abwelken. – Sehr richtig! Den Schädlingen muss man in aller Entschiedenheit und in jeder Phase des Wachstums zu Leibe rücken. Nicht nur am Land. – Der in Beziehung auf die landwirtschaftlich bearbeiteten Grundstücke für das Stadtgebiet mit Mittwoch festgesetzte ALLWÖCHENTLICHE Suchtag ist mit dem Zeitpunkt dieser Verlautbarung auch für die Nutzungsberechtigten an gärtnerisch mit Kartoffeln, Tomaten oder anderen Nachtschattengewächsen bestellten Grundstücken, das sind die ERWERBSGÄRTNER UND SCHREBERGARTENBESITZER, verbindlich. – Eine Bekanntmachung mit der entsprechenden Klarheit und Strenge. So kenne ich den Oberbürgermeister. Ausgezeichnet. – Der erste Suchtag ist der 18. JUNI 1941.«
Der Professor schreckte hoch: »Annemarie, das ist ja heute!«
»Eben, Herr Professor. Darum bin ich ja hier. Der Chef hat ja so viele Tomaten und Kartoffeln anpflanzen lassen, dass es eine Schande wäre, wenn diese Käfer alles vernichten würden. Hier vorn, das sind alles Tomaten, und hinter dem Hüttchen sind noch fünf Reihen Kartoffeln.«
»Was das für ein Schaden wäre, Annemarie! Denn wenn die Schädlinge erst mal mit diesem Garten fertig sind, dann fressen sie bald halb Innsbruck leer. Die werden wie eine Seuche!«
»Und dann ist ja noch Krieg«, ergänzte Annemarie. »Da braucht es jeden Bissen.«
»Ja natürlich. Es ist Krieg.«
»Aber der Führer wird uns schon nicht hungern lassen. So viel Krieg kann gar nicht sein«, rief Otto, von hinten sich ins Gespräch mischend. Annemarie nickte nur. Friedrich war bereits wieder in die Bekanntmachung vertieft:
»Die Beendigung des Suchdienstes wird rechtzeitig bekanntgegeben werden. An den Suchtagen sind die vorangeführten Personen verpflichtet, ihre in der angegebenen Weise bestellten Grundstücke in der Zeit zwischen 18 und 20 Uhr sorgfältig auf den Befall mit Kartoffelkäfern auf ihre Kosten abzusuchen oder absuchen zu lassen. Die Einhaltung dieser Anordnung wird überwacht, ihre Nichtbeachtung geahndet. – 18 Uhr. Wie spät ist es jetzt, Otto?«
»17 Uhr 30, Herr Professor!«
»Liebe Annemarie, dürfen wir dir unseren Suchdienst anbieten? Otto ist ein außerordentlicher Spürhund. Der findet jedes Ungeziefer, auch wenn es sich noch so gut versteckt. Stimmt es nicht?«
(S. 130-131)
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