Leseprobe
Dabei wollten sie in Innsbruck mit dem Erbteil, das der Vater nach einigem Hin und Her ausbezahlt bekommen hatte, ein Haus bauen. Sogar einen Grund im Mittelgebirge bei Innsbruck hatten sie schon in Aussicht, den wollten sie kaufen. Mit dem Krieg kam aber die Inflation und mit der Inflation war das Erbe nichts mehr wert. Sie mussten dann eine der Wohnungen beziehen, die in dieser Zeit für die Aussiedler gebaut wurden.
In Innsbruck fühlten sie sich dann auch nicht wirklich heimisch. Natürlich auch wegen der kargen Wohnung, in der sie lebten. Fremd auch, wenn sie nach Südtirol auf Besuch fuhren. Die bösen Blicke der Verwandtschaft, die Vorwürfe, die Unterstellungen. Wieder Schweigen. Der alte Lahner - und es war für Lukas besonders seltsam gewesen, als er das erzählt hatte - war ja auch einmal jung gewesen, zuerst sogar ein Kind. Seine Jugend dauerte damals nicht so lange, wie sich Lukas das für sich selbst vorstellte. Er musste früh erwachsen werden, der Lahner, Verantwortung übernehmen, nicht mehr zur Last fallen, sehr früh, zu früh.
Mit staunenden Augen und offenem Mund hatte Lukas dem Alten die letzten Wochen zugehört, stundenlang. Lahner hatte einen nicht nur geduldigen, er hatte einen interessierten, innigen, ja faszinierten jungen Zuhörer. Lukas hing geradezu an den Lippen des alten Lahner und prägte sich die Geschichten ein, die der Alte erzählte. Selbst am Nachhauseweg memorierte er das Gehörte, er wollte nichts vergessen. So abenteuerlich kam ihm das Leben des alten Lahner vor, gerade im Vergleich zu seinem eigenen Leben, zum Leben seiner Eltern.
Mehr noch aber faszinierte ihn die Tatsache, dass er nichts von Südtirol wusste, obschon er oft schon mit seinen Eltern einen Ausflug in den Süden gemacht hatte. Über den Nationalsozialismus, darüber hatte er schon viel gehört, über die Juden, die Zigeuner, klar, das wurde selbst in der Schule beiläufig behandelt, mehr noch aber in den Dokumentationen, die abends im Fernsehen liefen und die sich sein Vater hin und wieder ansah. Er wusste auch so manches über Andreas Hofer, klar, den kannte jedes Kind in Nordtirol. Über die Kämpfe am Bergisel, die Franzosen und die verhassten Bayern, am meisten wusste man aber über den Verrat des Kaisers in Wien Bescheid. Die Wiener haben uns verraten, auf die kann man sich nicht verlassen.
Diese Wahrheit brannte sich in jedes Kinderherz von Landeck bis Kufstein. Scheiß Wiener. Scheiß Piefke.
(S. 114f)
© 2014 Braumüller Verlag, Wien