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Leseprobe: Michael Köhlmeier - Die Abenteuer des Joel Spazierer.

 

Kurz bevor die Männer kamen, hatte mich meine Großmutter auf den Diwan im Salon gelegt und für den Mittagsschlaf zugedeckt. Als ich aufwachte, war ich allein.
Die Wohnung meiner Großeltern war sehr geräumig; Ärzte waren von den Enteignungen ausgenommen, jedenfalls bestimmte Ärzte. Ich rief nach Moma, tappte durch die Zimmer und hatte Durst. Ich schlich vorsichtig zur Küche, weil ich meinte, von dort etwas gehört zu haben. Zugleich aber wusste ich, dass ich immer schon gemeint hatte, von dort etwas zu hören, und das beruhigte mich ein wenig und ließ mich mutig sein. Meine Großmutter war eine junge Frau – sie war damals erst neununddreißig! –, in unserer Familie war es Tradition, dass die Frauen sehr jung Kinder bekamen; sie war ihr Leben lang gewohnt gewesen, bedient zu werden; als Tochter eines Diplomaten und Parlamentariers war sie in einer der schönsten Villen am Rózsadomb aufgewachsen (die nach dem Krieg von der Roten Armee enteignet, in ein Offizierscasino umfunktioniert und ruiniert wurde); nie hatten sie, ihre Mutter und ihre Schwestern selber gekocht, und nun musste sie in dieser „schäbigen Behausung“ (auf deren Quadratmeterzahl normalerweise vier Familien untergebracht wurden) allein für ihr, ihres Gatten und ihres Enkels Frühstück, Mittagessen und Abendessen sorgen, und es gehörte zu ihren Nachkriegsgewohnheiten, dabei zu fluchen (eine andere war, sich ins Geschirrtuch zu schneuzen). Wie jeder weiß, sind die Ungarn Weltmeister im Fluchen, und meine Großmutter, mütterlicherseits eine Ungarndeutsche, die in ihren eigenen vier Wänden nie anders als deutsch gesprochen hatte, übertraf den Meister, indem sie ihn mit Verachtung und Raucherbassstimme karikierte. Deshalb dachte ich lange, noch jemand anderer sei in der Küche; jemand, der meiner Großmutter etwas Böses tun wollte – den sie aber jedes Mal besiegte, denn ich sah sie hineingehen, hörte das fremde böse ungarische Gekeife und sah sie mit Tellern und Töpfen wieder herauskommen. Also war ihr nichts angetan worden. Ich war sehr stolz auf sie.
Als ich mich versichert hatte, dass niemand in der Küche war, schob ich einen Sessel vor die Spüle, stellte mich darauf, drehte mit beiden Händen am Wasserhahn und trank – und fühlte mich, wie sich Moma gefühlt haben musste, wenn sie den bösen ungarischen Geist besiegt hatte: muskelstark. Das Wasser ließ ich laufen. Ich wusste, ich würde bald wieder Durst haben. Hungrig war ich auch. Das war leicht. Ich stellte den Sessel vor den Schrank, auf dem die Emailtruhe stand. Ich nahm das große runde Brot, trug es in den Salon, bohrte das Weiche heraus und steckte es in den Mund.
Ich suchte noch einmal, nun gründlicher, die Zimmer nach Moma ab, sogar in die Besenkammer und die Speisekammer schaute ich, duckte mich unter die Schränke, unter die Betten, unter Momas Schreibtisch, der so gut nach ihren Zigaretten roch. Sie war nicht da. Ich rechnete nicht damit, dass sie jemals wiederkommen würde. Ich rechnete damit, dass nie mehr jemand kommen würde.
Auf den Fensterbänken im Salon standen Blumentöpfe mit Zimmerpflanzen. Die hatte ich nie gemocht, weil sie mir den Blick in den Himmel hinauf verstellten und weil manche wie Geisterfinger aussahen. Ich zupfte an den Blättern, bis die Töpfe zu Boden fielen. Die meisten gingen kaputt. Die Pflanzen stopfte ich unter den hohen Schrank mit dem Geschirr; ich wollte sie nicht sehen. Die Erde schob ich zu einem Haufen zusammen. Der war nicht klein. Ich patschte ihn mit den Händen fest. Ich besaß zwei Blechautos, beide rot, eine Limousine, in deren Fensterumrahmungen ich gern meine Fingernägel festhakte, und ein Feuerwehrauto mit ausziehbarer Leiter und einem Löschanhänger und dünnen Gummischläuchen mit winzigen Spritzen.
Ich spielte, bis ich aufs Klo musste. Das konnte ich ganz allein. Ich konnte auch die Spülung bedienen, das hatte mir Moma beigebracht. Ich hätte nur auf die Kloschüssel klettern und an der Kette mit dem Porzellangriff ziehen müssen. Aber ich spielte lieber, krümelte weiches Brot aus der Kruste, trank aus dem Wasserhahn, löffelte aus der Zuckerdose. Als es dunkel wurde, legte ich mich neben meinen Erdhaufen. Ich hätte gern Licht gehabt. Aber ich wusste nicht, wie man Licht machte. Das hatte ich nie beobachtet, und Moma hatte es mir nicht gezeigt. Ich wusste, dass am Abend das Licht von der Zimmerdecke fiel. Aber wie es dort hinaufgekommen war, wusste ich nicht â€¦ – Ich werde kindisch, das fällt mir nun selber auf. Die Männer, mit denen ich manchmal zusammensitze und die keine Ahnung von mir haben, würden mich für wehleidig halten, wenn sie das läsen – was sie natürlich nicht tun werden. Wenn ein Erwachsener einen kindlichen Menschen mimen will, ist er kindisch und weiter nichts. Es gibt keine kindlichen Menschen. Ein Mensch mit drei Jahren fühlt sich nicht als Kind. Dass man Kind ist, merkt man erst mit fünf. Und da will man auch schon keines mehr sein. Ich habe mich nie erwachsener gefühlt als damals, war nie vernünftiger gewesen, nie lebensfähiger – nämlich, in der Lage, mich anzupassen. Keine Weinerlichkeit. Keine Angst. Keine Abschweifungen. Keine Empathie. Keine Wahrheit, keine Lüge. Ich hätte mir zugetraut, einen Staat zu lenken.

(S. 9–11)

© 2013 Carl Hanser Verlag, München.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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