Leseprobe: S 121-125
22. Februar, Mittwoch: Pizzeria
"Zeit wird’s", sagte Waltraud und strich mit schmalen Fingern über das Bild in der Illustrierten, tippte auf die Schlagzeile: "Schlank und rank dem Frühling entgegen! Sieben Kilo in vier Wochen!" Sie und Fanni waren die ersten an diesem Mittwoch, Gerfriede und Hilda würden sich verspäten, aus welchen Gründen auch immer. Fannis Hand war frisch verbunden, sie kam direkt von ihrem Hausarzt, Abendordination, das Wartezimmer brechend voll. Eineinhalb Stunden sei sie dort gesessen, für zehn Minuten Behandlung, erzählte sie Waltraud, und nein, nichts Schlimmes, ein blöder Schnitt, Bierflaschenscherben. Hatte sich entzündet. Dass dabei auch frischer Gartendreck eine Rolle gespielt hatte, erzählte sie nicht. "Krankenstand?", fragte Waltraud und blätterte weiter, überflog die Rezepte. Ingwer und Weizengras. "Ja", antwortete Fanni und sah Mario zu, der hinter der Schank Bier einschenkte, große Gläser voll goldenem Bier, schaumgekrönt. 100 Milliliter Weißbier, 55 Kalorien, eine Flasche ist gleich ein halber Liter ist gleich 55 mal fünf ist gleich 275 Kalorien. "Schmerzen?", fragte Waltraud, sah sich um, bevor sie eines der Rezepte aus der Seite riss, sehr geschickt machte sie das. Zurück blieb ein beinah perfektes rechteckiges Fenster im Papier. "Kaum", antwortete Fanni.
Waltraud faltete das Rezept zusammen und schob es in die Tasche. Blätterte um. "Wie war das Geburtstagsfest deines Vaters?", fragte sie. "Schön", antwortete Fanni. Waltraud hob eine Augenbraue, sah sie kurz an. Las weiter. "Fein", sagte sie.
Fanni berichtete ein wenig, sprach in die Gaststube hinein, an Waltraud vorbei, die ab und zu nickte oder "ach ja?" murmelte oder "wirklich?". Fanni erzählte von der Tafel, den Geschenken. Machte sich vorsichtig lustig über den Gesangsverein, der sich nicht nur eingesungen hatte, sondern auch angesoffen. Das Ständchen war schief geraten. Erwähnte Lisas Tischkarten und Hans’ Laudatio auf den Vater. Erwähnte, dass Friedl eingeschlafen war auf einer Bank, und Bernhard Ines in der Disco suchen musste um zwei in der Früh, als man fahren wollte. Dass man das Mädel schließlich bei den Großeltern lassen konnte über Nacht, dass man bei leichtem Eisregen aufgebrochen war, dass Bernhard zu viel getrunken hatte und folglich sie fahren musste, trotz kaputter Hand. Dass es dennoch nett war. "Nett", wiederholte Waltraud. Sie trennte ein Sudoku aus der Illustrierten.
"Ja", sagte Fanni. Waltraud nippte an ihrem Soda-Zitron. Fanni ließ unerwähnt: Dass Bernhard sich daheim nur kurz aufs Sofa legen wollte. Dass Friedl in Fannis Bett schlief. Dass sie alle Lichter gelöscht hatte, dann im Pyjama neben ihrem schnaufenden, träumenden Mann im Dunkeln an der Terrassentür gestanden war. Sie hatte Bernhard zugedeckt mit zwei Wolldecken, hatte die Heizung aufgedreht, hatte in den Garten gestarrt, dem Ticken der Küchenuhr gelauscht, an den Dienstplan an der Kühlschranktür gedacht. Dieser Gedanke hatte ihr Übelkeit verursacht, so stark, dass sie die Terrassentür leise öffnete und ins Freie schlüpfte.
Wo sie stand. Wo die Kälte sie biss. Und sie sich hinhockte. Um Lisas Verband von der Hand zu ziehen. Um mit der wunden Stelle drei, vier Mal kräftig über den dreckigen Waschbeton zu reiben. Und noch ein Mal. Dann mit der gesunden Hand nach Erde zu greifen und in den Schnitt zu pressen. Rotz und Tränen knisterten ihr im Frost auf den Wangen.
Davon erzählte sie nichts. "Selbst habe ich recht gut geschlafen", sagte sie. Mit Lisas Verband wieder über der schmutzigen Wunde. Auch das ließ sie unerwähnt. "Wir sind erst gegen Mittag aufgestanden." Und Bernhard habe einen ordentlichen Kater gehabt. Waltraud lachte. Sie legte die entkernte Illustrierte weg und griff nach der nächsten.
Mario kam an den Tisch. "Fanni, entschuldige, ein Holler-Soda?" 275 Kalorien, dachte Fanni. "Ein Weißbier", sagte sie. Und ein Pizzabrot. Ohne Knoblauch." "Ma come!" Der Italiener zwinkerte Fanni zu, drehte sich schon weg, wurde zurückgerufen von Fanni. "Mario! Ich hab’s mir anders überlegt." Mit Knoblauch solle er das Pizzabrot bringen. Dass sie dann stinken würde, sagte Waltraud, dass sie ja nicht schmusen müssten, war Fannis Antwort.
Bald saßen sie zu viert am Tisch. Um die Freundin nicht allein trinken zu lassen, das gebiete der Anstand, bestellte sich Hilda ein kleines Pils, nötigte Hilda Gerfriede einen Sommerspritzer auf und konnte Hilda Waltraud nicht davon überzeugen, statt Soda-Zitron etwas Anständiges zu trinken. "Ein Sommerspritzer mitten im Winter!", beschwerte sich Gerfriede, sah jedoch ein, dass es zur Planung des jährlichen Stammtischausfluges kein passenderes Begleitgetränk gäbe. Sie kicherte, Fanni hasste dieses Kichern, was sie nicht empfänglicher machte für Gerfriedes Sprechstundenhaftigkeit: "Du nimmst doch Schmerzmittel, oder?" Zuvor hatte Hilda alle Details zum Scherbenunfall aus Fanni gepresst, und warum sie nicht angerufen hatte, man hätte geholfen. Ob sie etwas brauche? Im Haushalt? Leo könne doch gern jeden Tag, bis die Hand wieder gut sei ... "Danke, Hilda", sagte Fanni. Und zu Gerfriede: "Nein." Sie sagte das nah am Gesicht der anderen, sodass diese ein Stück wegzuckte, der Knoblauch tat seine Wirkung. "Falls doch, dann darfst du keinen Alkohol konsumieren." Sie selbst nähme generell keine Medikamente, aus Prinzip nicht, nur im aller- schlimmsten Notfall. Bei Kopfschmerzen zum Beispiel ... Hilda unterbrach. "Also wenn ich nur den kleinsten Hauch von Kopfschmerzen spüre, dann werf’ ich ein Aspirin ein, manchmal gleich zwei. Ich zeig’ euch was!" Sie nahm ein pralles rotes Täschchen aus der Handtasche, öffnete den Zippverschluss und schüttete den Inhalt auf den Tisch: Aspirin mit und ohne Vitamin C, zwei, drei Streifen mit starken Schmerztabletten, Lutschpastillen, Desinfektionstücher, Haarnadeln, Sicherheitsnadeln, Brillenputztücher, Zahnpflegekaugummis, Plastikzahnsto- cher, eine winzige Tüte Salz, wie man sie im Flugzeug bekommt. "Hoppla, da bleibst!" Ein Tampon, ultra plus, rollte Richtung Tischkante. Hilda fing ihn auf. Stopfte den Inhalt zurück in das Täschchen, nicht ohne zu fragen: "Braucht wer was? Ich hab’ alles."
Man unterhielt sich über verschiedene Varianten der Kopfwehprophylaxe. Man stritt, ob Waltrauds kombinierte Schläfen- und Nackenmassage, begleitet von zwei großen Gläsern Wasser am offenen Fenster, bei jedem Wetter, ob dies hilfreicher sei als Gerfriedes Mischung aus ätherischen Ölen, entweder unter die Nase getupft oder in die Ohrläppchen gerieben. Gerfriede empfahl Kamille, Lavendel, Rosmarin und Minze. Und nein, Waltraud, man müsse das schon ausprobieren, um zu wissen, ob es helfe. Sie hätte da ein Buch, das könne sie ihr gerne ausleihen. Und nein, Hilda, Homöopathie sei kein Witz, Globuli wirkten sogar bei Tieren, bei denen könne man doch kaum von Plazeboeffekt sprechen.
Man unterhielt sich und zog die Illustrierten zu Rate, zwischen all den neuen Papierfenstern der einen hatte Waltraud einen Bericht über die Wirksamkeit frischen Wassers gefunden, generell wäre das sehr häufig der Grund für Kopfschmerzen. "Was?", fragte Fanni. Die geschwiegen hatte. Die nur zugehört hatte und weggehört und in sich hinein. "Na, dass man zu wenig trinkt!", meinte Waltraud.
"Prost", sagte Hilda und hob ihr Glas, "auf unseren Weiberausflug!" Die Frauen stießen an, verschieden gestimmt, nicht nur die Gläser. Dachte Fanni. Sie trank in tiefen Zügen. Unter dem Verband pochte die Wunde, unter der Brust das Herz, aus den in der Decke versenkten Lautsprechern der leise Takt einer italienischen Schmonzette. Unter der Hecke im Garten vermoderte das Bild des brennenden Jordaniers, unter ihrem Pulli, ihren Hosen, ihrer Unterwäsche der eigene Körper, unter der freundlichen Fassade die Freundschaft selbst.
Nein, nein, dachte Fanni. Nein, nein. Sie schüttelte den Kopf. "Hilda, gib mir was, die Hand tut weh." Kein Protest seitens Gerfriede, nur ein: "Dann aber kein Alkohol mehr, gut?" Das rote Täschchen, eine Tablette gegen den Schmerz, Hilda war in ihrem Element. Stellte dann Grado in Frage, zweifelte sogar Venedig an. Nichts half, dass Waltraud Bilder zeigte, ihr eigenes Reisemagazin, unversehrt, im Abonnement bezogen. Der Lido, sagte sie, die Zecca, der Dogenpalast! San Michele, die Friedhofsinsel! Fanni meinte, sie könne wohl ohne Friedhöfe nicht mehr leben, und noch bevor Hilda die Leichen im Keller erwähnen konnte, wechselten sie das Thema. Verschoben sie die Entscheidung, wann man wohin fahren wolle, auf den nächsten Stammtisch.
© 2016 Otto Müller Verlag, Salzburg-Wien.