Leseprobe:
1. Meinte er
Lange hatte Michael Braun geglaubt, seine Mutter sei nicht in der Lage, ein SMS zu schreiben. War sie aber. Bitte besuche Onkel Kurt bald, er lebt nicht mehr lang, so schrieb sie. Und das nach Mitternacht. Silvia war noch wach: »Was ist denn los?« Braun antwortete nicht. Er stirbt also, dachte er und schlief ein.
»Frag jetzt nicht, wie es mir geht«, sagte Onkel Kurt. Eine Krankenschwester kam. Sie bückte sich nach der Harnflasche, die an der Seite des Betts hing. Dabei konnte Braun im weißen Kasack den Ansatz ihrer Brüste sehen. Es waren schöne Brüste. Die Krankenschwester war überhaupt schön, ihre Hautfarbe dunkel. Das gefiel Braun. Leider verließ sie das Zimmer gleich wieder.
»Kann ich dir etwas bringen? Brauchst du irgendetwas? «Onkel Kurt blickte an die Decke: »Eine Pistole, bring mir eine Pistole!«
Braun fragte sich, wie lange man bei einem Kranken bleiben musste, um nicht unhöflich zu sein. Eine Stunde? Dann war er hier noch lange nicht fertig. Er ging aufs WC, um zwei, drei Minuten herauszuschinden. Auf dem Gang hielt er Ausschau nach der schönen Krankenschwester. Er blickte in offene Krankenzimmer und durch die Glasscheibe des Stationsstützpunkts. Von der Schwester keine Spur. Auf dem WC desinfizierte er seine Hände und stellte fest, dass er den Geruch des Desinfektionsmittels mochte. Eigentlich mochte er alles hier, außer dass er neben Onkel Kurt sitzen musste. Braun hatte kein Mitleid mit Onkel Kurt. Onkel Kurt war sechsundachtzig Jahre alt, und er war ein Lügner.
(S. 5-6)
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