Leseprobe:
12:00 Uhr
Na gut, mir fällt jetzt sowieso nichts mehr ein, da kann ich also gleich ins Orlando gehen. Scheint auf den ersten Blick recht schnuckelig zu sein. Ich streiche den Satz wieder. Das Lokal ist eine Empfehlung von Jetta. Ich beschließe, es allenfalls okay zu finden. Die Speisekarte fällt schon einmal eindeutig in die Kategorie. Sehr lang ist sie ja nicht. Ich bestellte M1. Bei unserem üblichen Chinesen ist M1 das einzige Essen, das nicht nach Hundefutter mit Glutamat schmeckt, sondern relativ neutral nach Altöl und Sägespänen. Aber Horst ist ganz verrückt nach dem Zeug. "Mit Lolle!", bestellt er immer grinsend und dann kommt das frittierte Kalorienschwergewicht auch schon frisch aus der Mikrowelle daher. Ich nehme immer die Suppe, probiere zwei Löffel, bis mir wieder einfällt, dass ich Suppe ja noch mehr hasse als Lolle. Dennoch: Während ich im Orlando auf M1 warte, verspüre ich plötzlich Heißhunger auf Hochglanzlolle mit Gammelfleisch süß-sauer.
Ich weiß, wer daran schuld ist: Bernadette. Zugegeben, ich hatte den Namen schon verworfen, aber jetzt ist er dafür umso hartnäckiger wieder da. Er scheint mir passend für meinen Pusteblumenstern, der in seinem warmen weichen Dunkel schwebt und noch nichts von sich weiß. Mädchen, Junge – Kategorien, die noch keine Bedeutung haben. Bernadette darf beides sein und nichts davon. So, wie es für uns alle sein sollte.
Bernadette also hängt an meinem Mutterkuchen wie der Kosmonaut an der Mir und gibt mir Befehle. Ich sollte vielleicht doch die Seile kappen, ehe sie mich völlig in der kleinen Runzelhand hat. Wobei sie derzeit noch nicht über eine Hand verfügen dürfte. Bernadette sieht im Moment wohl eher aus wie ein Seepferdchen. Ich mag Seepferdchen. Bei denen werden die Männchen schwanger.
© 2016 Edition Raetia, Bozen