Als es in die Klasse gekommen ist, und alle haben neben ihren Bänken gestanden, und es selbst hat neben der Lehrerin gestanden, ganz vorn, war es sich vorgekommen wie Gulliver bei den Zwergen. Es hat sich umgesehen und bemerkt, daß es auf alle Köpfe herabschauen kann. Da hat es gewußt, daß es zu groß ist. Es hat seinen Kopf eingezogen und darauf gewartet, daß die Lehrerin ihm einen Platz zuweise. Die Lehrerin hat es auf den einzigen noch freien Platz gesetzt, auf den Platz neben einem Jungen mit einem sehr grobschlächtigen Gesicht. So ist der Gegensatz nicht ganz so groß gewesen, und die anderen haben sich beruhigen können, und haben anfangen können zu glauben, daß dieses Mädchen die Neue sei. Die Mädchen konnten auf einen Blick sehen, daß es sich hierbei um keine Schönheit handelt, durch welche die feingesponnene Hierarchie in Unordnung gebracht würde, weil jenes gewaltige Geschöpf in dem Moment, da es sich setzt, sofort wie ein bleierner Bodensatz auf den Grund der Ordnung sinkt, und die Jungen wußten, daß sie einen Fang gemacht hatten, daß da Futter für etliches Gelächter ihnen ins Maul hinein spaziert war, und das freute sie. Aus dem lächelnden Schweigen seitens der Klassenkameraden, das auf seine Plazierung folgt, wagt das Mädchen zu schließen, daß seine Unbeholfenheit offenbar hinreichend ist, ihm trotz seiner Größe einen Platz in der achten Klasse zu verschaffen, womöglich sogar den untersten, und da ist es erleichtert. In diesem Augenblick hört man, wie irgendwo eine Tür leise geschlossen wird, und dem Mädchen kommt es so vor, als sei das alte Leben jetzt von ihm gewichen. (S. 16f.)
© 1999, Eichborn Verlag, Frankfurt / Main.
Publikation mit freundlicher Genehmigung des Verlags.