Die 100 schönsten Gedichte der deutschen Literatur
Es lesen: Carmen-Maria Antoni, Konrad Beikircher, Dieter Mann, Otto Sander, Ulrich Tukur, Ulrich Mühe, Katharina Thalbach u. a.
2 CDs Spieldauer: 109:05 Min.
ISBN: 3-491-91147-8
Düsseldorf: Patmos Verlag, 2003
Publikumswahlen scheinen im deutschen TV derzeit beliebt zu sein. Vor wenigen Wochen forderte das ZDF unsere Nachbarn mit Pauken und Trompeten, mit Schmalz und Pathos, mit Werbung und prominenten Fürsprechern dazu auf, den "besten" Deutschen zu wählen. Es war viel von Genialität, Tapferkeit, Einfallsreichtum, Weltgeltung die Rede: Marx, Einstein, Luther und Gutenberg konnten sich zwar vorne platzieren, gewonnen hat aber, doch ziemlich enttäuschend, der pragmatische Kanzler Konrad Adenauer. Das versteh mal einer!
Und nun eine Doppel-CD mit dem Titel "Lieblingsgedichte. Die 100 schönsten Gedichte der deutschen Literatur". Diesmal hat der WDR die Sache in die Hand genommen und bereits im Mai 2000 seine Hörer und Seher gefragt, welche Lieblingsgedichte sie haben. 3000 haben geantwortet, 900 Gedichte von 300 Schriftstellern wurden genannt. Nach Auszählung der Nennungen wurden die 100 am häufigsten genannten Gedichte in absteigender Reihenfolge (1. bis 100.) auf die beiden CDs gebrannt.
Wer hat gewonnen? Welches ist das beliebteste Gedicht der Deutschen? Nimmt man die ZDF-Wahl als Referenz, darf man eher Konventionelles, Bekanntes erwarten. Das Siegergedicht ist Hermann Hesses "Stufen", gefolgt von Eichendorffs "Mondnacht", Bronze geht an Rilkes "Herbsttag". Die weiteren Top-10: Platz vier für Fontanes "Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland", fünf für Rilkes "Panther", Platz sechs geht an Schillers "Bürgschaft" vor Frieds "Was es ist", Platz acht für Mörikes "Er ist's", Platz neun für Conrad Ferdinand Meyers "Der römische Brunnen" und mit dem "Zauberlehrling" hat es Goethe gerade noch in die Top-10 geschafft.
Also: Konventionelles, Bekanntes, Gedichte, die jeder Gymnasiast in seinem Literaturgeschichtebuch findet. Wer wurde noch gewählt? Heine, Hebbel, Hölderlin und Hofmannsthal, Busch, Benn, Brecht und Bachmann, Heinz Erhardts "Made" und das anonyme "Dunkel war's, der Mond schien helle". Keiner der Lyriker, die in die Auswahl aufgenommen wurden, lebt noch, alle sind sie tot. Eine Ahnengalerie der deutschsprachigen Lyrik. Die jüngsten Gedichte sind von Brecht, Bachmann und Fried in der Nachkriegszeit geschrieben worden, die Avantgarde sucht man vergeblich, kein Jandl, kein Enzensberger. Aber war wirklich anderes zu erwarten? Wer liest heute noch Gedichte, wer kann welche rezitieren? Früher wurden in den Schulen Lieder und Gedichte auswendig gelernt (oft auch zur Strafe), zumindest der "Erlkönig" und der "Zauberlehrling". Aber heutzutage? Wo steht die Lyrik heute? Es gibt die Poetry Slams, die eine Zeit lang sehr beliebt waren, aber das ist Lyrik für den Augenblick, die nicht haften bleibt. Die Verse, die die Jungen kennen, die vom Ohr ins Hirn schießen und sich dort festsetzen, sich in Endlosschleifen repetieren, die ein Lebensgefühl ausmachen und ein Leben verändern, die kommen aus der Musik. Von Bob Dylan, David Bowie oder Eminem, oder, um im deutschen Sprachraum zu bleiben, von Blumfeld, Tocotronic oder auch Grönemeyer. Dort erreichen Verse und Reime ihr Massenpublikum, dort werden sie geliebt.
"Die 100 schönsten Gedichte der deutschen Literatur": alt und verstaubt, trotzdem schön, einprägsam, traurig, lehrreich, verzaubernd. Nicht alle Gedichte haben ihre Wirkung über die Jahrzehnte, Jahrhunderte bewahren können, sind nur mehr aus literaturhistorischer Perspektive wahrnehmbar, viele aber blieben zeitlos aktuell.
Es sind gute Aufnahmen, von Profis wie Otto Sander, Ulrich Tukur, Ulrich Mühe oder Katharina Thalbach gesprochen, behutsam, angemessen konservativ interpretiert. Eine Auswahl, die der Literaturfreund ins Bücher- oder CD-Regal stellen muss, die alles, was man kennen muss, enthält, ein Parcours durch die deutsche Literaturgeschichte, ein Standardwerk. Gerade das könnte man aber kritisieren: dass die Aktion ein sicheres Geschäft ist, von Marketingfachmännern erdacht (die 100 Lieblingsgedichte sind übrigens auch als Buch und als Buch mit den beiden CDs erhältlich), von dem Patmos und WDR profitieren; dass kein Lektor die Auswahl besorgt hat sondern das Publikum, eigentlich der Markt; dass das Eingängige (oft ist es aber gerade das Widerständige, das die Kunst vorantreibt) den status quo fortschreibt.
Peter Landerl
13. Jänner 2004