Es liest: Chris Pichler
Spieldauer: 51:26 min.
ISBN 3-7085-0032-6
Wien: Preiser Records, 2003
1947 erschien erstmals die Sammlung "erlebter Geschichten" von Lina Loos "Das Buch ohne Titel". So bald nach dem Zweiten Weltkrieg war das Buch der 1882 geborenen Schaupielerin und Autorin ein Erfolg, denn in ihm erscheint die Welt - Wien vor dem Krieg - nicht gerade in heilem Glanz doch unbeschwert genug. Dies ist vor allem der Sichtweise von Lina Loos zu danken, die von Glück und Leid mit ungebrochenem Optimismus erzählt.
Verantwortlich für die Neuausgabe des Werkes von Lina Loos zeichnet Adolf Opel. "Das Buch ohne Titel" wurde 1996 erstmals wieder aufgelegt. Die Auswahl, die der Herausgeber für die gleichbenannte CD getroffen hat, konzentriert sich auf jene Andekdoten, die von Berühmtheiten wie Adolf Loos, Egon Friedell, Franz Theodor Csokor, Peter Altenberg und Viktor Adler handeln. Ihnen zur Seite werden Erinnerungen an Lina Loos Mutter gestellt, die als angesehene "Kaffeesiederin" wohl so etwas wie ein Wiener Original gewesen sein muss. Nicht deklariert hat Adolf Opel die eingeschobenen lyrischen Versuche der Autorin, die ursprünglich nicht im "Das Buch ohne Titel" enthalten waren. Sie stammen aus der ebenfalls von Opel editierten Schriftensammlung "Wie man wird was man ist". (1994).
Wie die geborene Lina Obertimpfler zu Lina Loos und dem geworden ist, was sie war, davon erhält man auf der nur circa 60 Minuten knappen CD immerhin einen Eindruck. Die Anekdoten über die Mutter lassen den Rückschluss ziehen, dass Lina die Resolutheit und auch den Mutterwitz von ihr geerbt hat. Die Begegnung mit ihrem ersten und einzigen Mann Adolf Loos verläuft ungewöhnlich und bezeichnend sowohl für die Extravaganz des damals umstrittenen Architekten als auch für die Spontaneität der jungen Schauspielerin. Sie gipfelt in einem Heiratsantrag des um 12 Jahre Älteren an die knapp 19-jährige. Die Ehe verläuft unglücklich und endet bereits zwei Jahre später mit einem von Arthur Schnitzler literarisch verarbeiteten Gesellschaftsskandal. Loos, der erst am Beginn seiner Karriere steht, bestätigt ihr dennoch "visionäre Sicherheit in der Beurteilung", die ihn "von vielen Zweifeln erlöst" hat. Loos anerkennt ihren geraden und schnörkellosen Blick, Peter Altenberg schwärmt von den "hechtgrauen Augen". Lina verzichtet trotzdem auf ein Musendasein.
Peter Altenberg und Egon Friedell schreiben Texte für die Freundin, die als Kabarettistin in Wien und in Berlin auftritt. Lina wiederum beschreibt mit leicht angespitzter Feder die Freunde. Während andere Zeitgenossinen sich über Partnerschaften mit berühmten Männern definieren (siehe Alma Mahler), sich politisch (siehe Berta Zuckerkandl) oder künstlerisch (siehe Grete Wiesenthal) selbst verwirklichen, ist Lina Loos die wache Beobachterin, die engagiert Parteiergreifende, die liebevolle Freundin, die treffsicher und witzig, aber niemals beleidigend in ihrem Urteil ist. Lina kann es sich etwa erlauben, über den von ihr so benannten "Antrenz-Coat" des Schriftstellers Franz Theodor Csokor zu spotten - er bleibt ihr lebenslanger Freund und literarischer Förderer und attestiert ihr einen Nestroy verwandten Humor. Sie schreibt Feuilletons für die "Arbeiter-Zeitung" genauso wie für "Die Dame", kleine Geschichten, die vom Charme des Wiener Idioms leben, mit dem die Autorin zu spielen versteht. Es sind in scheinbare Naivität geschickt verpackte Satiren auf die Wiener Gesellschaft, in denen man sich wiederfinden und über sich selbst lachen kann.
Kritik an der schwierigen wirtschaftlichen und politischen Lage der Vorkriegszeit findet nur über die Hintertür des Witzes Eingang. Für die sich anbahnende Katastrophe und ihre Vorzeichen - etwa den Selbstmord des jüdischen Freundes Egon Friedell - findet die Autorin keine Worte. 1938 zieht Lina sich aus dem öffentlichen Leben zurück. Erst als sie 1946 dem Bund demokratischer Frauen und dem "Österreichischen Friedensrat" beitritt, hat sie ihr Lebensziel gefunden. Als Schülerin hatte sie ihrem Lehrer auf die Frage, was sie denn werden wolle, geantwortet: "Ich möchte am liebsten für eine große Idee leben und für eine große Idee sterben. ... aber ... ich habe keine Idee." (Zitat / CD) Das bezeichnet vielleicht am deutlichsten den Charakter dieser Frau, die als Autorin ihre Grenzen kannte: "Ich ... begann zu schreiben - ein lustiges belangloses Buch. Gerne hätte ich ein wertvolles ernstes, für alle Menschen wichtiges Buch geschrieben ..."
Die vorliegende CD ist wie die meisten Schriften von Lina Loos "leichte Unterhaltung". Die Schauspielerin Chris Pichler liest die Texte entsprechend leichthin, ganz nah am typischen Wiener Mädel Charme, der manchmal etwas zuviel an naiver Entrüstung und auftrumpfender Komik hat und nicht ganz zu einer Autorin passt, die als reife Frau Rückschau hält. Es lohnt sich daher auf jeden Fall im "Das Buch ohne Titel", in dem es die Vielseitigkeit der Lina Loos zu entdecken gibt, weiterzulesen. Lina Loos war mehr Mensch als Künstlerin, mehr Praktikerin als Denkerin und war sich berechtigterweise zu schade, nur eine Muse zu sein.
Beatrice Simonsen
30. August 2004