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Robert Streibel: April in Stein.

Leseprobe

Als Leopold Hart im Jänner 1945 zum zweiten Mal auf dem Bahnhof in Krems ankommt, hat er ein Lied auf den Lippen. Es ist so etwas wie eine Heimkehr, er weiß, was ihn im Gefängnis erwartet. Er ist sicher, dass er wieder in eine Gemeinschaftszelle kommt, hoffentlich geben die Politischen den Ton an, aber ein paar ehrliche Einbrecher wären sicherlich für Geschichten gut, sie verkürzen die Zeit zwischen Dämmerung und Morgengrauen. Vor Messerstechern und Mördern hat er Angst. Doch den Grund für seine Verhaftung trägt keiner auf der Stirn, und bis man weiß, warum jemand eingesperrt ist, vergehen oft Tage und Wochen und die Meinung über den Zellengenossen hat sich längst geformt, im Guten wie im Schlechten. Leopold Hart ist kein Neuling mehr, die Verhöre, der Keller des Gestapo-Gefängnisses am Morzinplatz, das Landl und dann Stein. Ihn kann fast nichts aus der Ruhe bringen, wenn er nur seine Gedanken im Zaum halten kann. Er hat sich vorgenommen, nicht darüber nachzugrübeln, wer ihn verraten haben könnte. Dass er überwacht worden ist, ist für ihn ausgeschlossen, irgendjemand muss in den Verhören seinen Namen genannt haben. Er hatte niemand verraten, auch nicht, als er geschlagen wurde. Wer hat »gespieben«? Vielleicht ist es besser, den Namen nicht zu wissen. Mit dieser Gedankenkette muss Leopold Hart leben, hat er gelernt zu leben. Das bringt ihn nicht mehr aus der Fassung, aber als es Mitte 1944 nach einem Jahr in Stein geheißen hat, er käme auf Transport, da quälte ihn die Frage: wohin? Diese Ungewissheit ist ärger als alles, was er in der Vergangenheit erlebt hat. Diese Ungewissheit ist seine Zukunft oder eben sein Ende. Dass Häftlinge in Konzentrationslager verlegt wurden, war bekannt, dass das schlimmer war als Gefängnis, war ihm klar, zurückgekommen ist noch keiner, um darüber zu berichten.

Karl Rudolf Marischler war im Jänner 1945 ins KZ Mauthausen gekommen, Franz Häberle war ebenfalls ins KZ Mauthausen überstellt worden und Otto Freund war von Stein nach Graz und von dort am 22. Jänner 1945 ins KZ Buchenwald verfrachtet worden.

Verstehe einer die Logik der Nazis. Warum kam er auf Transport? Er wusste es nicht. Bisher musste man damit rechnen, wenn etwas vorgefallen war, wenn man beim Schmuggeln erwischt wurde, Streit mit einem Aufseher hatte oder wegen der Organisation von Lebensmitteln aus der Küche. Der Transport war eine Strafmaßnahme. Vielleicht brauchten sie einfach Platz in Stein und deshalb mussten einige Häftlinge verlegt werden, versucht sich Leopold einzureden. Der erste große Transport mit griechischen Häftlingen war am 13. April 1944 in Stein angekommen. Das stellte die Leitung des Zuchthauses vor eine organisatorische Herausforderung. Auf einen Schlag mussten 82 Häftlinge untergebracht werden. Dies war nicht einfach. Am folgenden Tag trafen weitere 9 ein. Bis Ende April waren es nochmals 25, im Mai waren 201 Neuzugänge zu verbuchen, im Juni 125 und im Juli nochmals mehr als 80.

Zu Beginn des Jahres 1944 war Stein bereits mit Häftlingen überfüllt gewesen, Mitte des Jahres waren die Zellen bis an die Grenzen ihrer Kapazität überbelegt. Die Anweisung, Gefangene gleicher Nationalität zu trennen, um Solidarität erst gar nicht aufkommen zu lassen, war unter diesen Bedingungen nicht mehr aufrechtzuerhalten. Als es nun also hieß, Leopold Hart und weitere 50 Häftlinge kämen auf Transport, da schwirrten viele Gerüchte durch die Zellen. Nach einer langen Fahrt erreichten die Häftlinge aus Stein Zwickau, wo sie für den Arbeitseinsatz bestimmt waren. Leopold Hart war Schlosser, er arbeitete in den folgenden Monaten in Zwickau im Auto-Union-Werk DKW und produzierte Gewinde für die Rüstungsindustrie. Jeden Samstag beim Appell wurden zur Abschreckung die neuen Todesurteile verlautbart, der Grund lautete immer Sabotage. Im Herbst 1944 erlebte Leopold die ersten Luftangriffe auf Zwickau. Während die DKW-Arbeiter Zuflucht in den Bunkern suchten, wurden die Häftlinge in ein umzäuntes Gebiet vor dem Werk gebracht, wo sie sich auf den Boden kauern sollten. Deutsche Luftabwehr oder Luftverteidigung gab es damals längst nicht mehr. Den Bombenangriff, bei dem 30 gestaffelt fliegende Maschinen das Auto-Union-Werk zerstörten, erlebte Leopold auf dem Boden liegend. Er hatte sich vorgenommen, zuzusehen, um Zeuge zu sein. Die Zerstörung würde den Gefangenen die Freiheit oder den sofortigen Tod bringen. Nach der ersten Welle war es mit der Beobachtung jedoch vorbei. Schutt, Staub und Trümmer flogen durch die Luft. Als die Häftlinge nach einer Stunde zurückgebracht wurden, waren vom Werk nur mehr Ruinen geblieben. Mit sieben anderen österreichischen Häftlingen wurde Leopold im Dezember 1944 abermals auf Transport geschickt. Wieder die Ungewissheit, wieder endloses Warten in der Kälte. Durch ein Guckloch im Waggon betrachtete er die Landschaft, fahl schien die Sonne, wie in Trance lehnte er an diesem Ausblick. Dass er längst nicht mehr die Sonne, sondern den Mond betrachtete, fiel ihm erst auf, als er durch ein Bremsen des Zuges mit dem Kopf gegen die Planke schlug. Im Bahnhof von Preßburg hat einer der Begleitpolizisten auf der Mundharmonika gespielt.

Das Lied bekam Leopold nicht mehr aus dem Kopf. Als er das Lied zum ersten Mal im Radio gehört hatte, war er noch in Freiheit gewesen. »Es geht alles vorüber, es geht alles vorbei, auf jeden Dezember folgt wieder ein Mai.« Mit diesem Lied kam er nun am ersten Donnerstag des Jahres 1945 erneut in Krems an, die Häftlingstransporte waren durch die Weihnachtsfeiertage nur kurz unterbrochen worden. Mit ihm kommen etwa 40 weitere Häftlinge: Mehmed, Giuseppe, Arturo, Ivan, Chuy, Pietro, Rocco, Mijo, Jaroslav, Melodey, Louis, Tihomir, Dervis, Marian, Branko, Henri, Stefan, Karol, Hasan, Guy, Franz, Ladislaus, Angel, Ivan, Rudolf, Otto, Enrico, Ivan, Filip, Stjepan, Djördje, Eugen, Andreas, Nemad, Gottlieb, Ilija.

Sie kommen aus den verschiedensten Ländern Europas und werden mit unterschiedlichen Zügen aus Wien oder St. Pölten nach Stein gebracht. Nur für Leopold Hart ist es fast so etwas wie eine Heimkehr, für alle anderen ist die Haftanstalt neu. Er kennt das Aufnahmeritual, eine Nacht verbringt er im Keller, am Freitagvormittag wird er als neunter Häftling in eine Sechsmannzelle verlegt. Drei Griechen, zwei von ihnen liegen am Fenster. Bei der Begrüßung hat er ihre Namen nicht verstanden, jetzt weiß er: Dimitri und Kostas dürften schon länger hier sein, Evangelos ist einen Tag vor ihm nach Stein gekommen. Im zweiten Stockbett, das ebenfalls vor das Fenster gestellt wurde, liegen der Bibelforscher Walter Schuster und über ihm der Kommunist Alois Westermann, der Dreher bei der Austro-Fiat war. In Stein hat er zuerst unter den Tschechen im Gustloff-Werk, in der Patronenfabrik gearbeitet. Der Mann über ihm ist Franz Strassak, wegen Feindsender-Hörens wurde er zu vier Jahren verurteilt. Er scheint krank zu sein, denn er kann sich nur mühsam aus dem Bett erheben. Über Evangelos liegt der Einbrecher Leopold Fuhrich. Und dann ist da noch der Valentin Wanger und über ihm ein leeres Bett. Die Letzten, die in die Zelle verlegt werden, bekommen die schlechtesten Betten, das ist für Leopold Hart keine Neuigkeit. Er und Evangelos liegen in unmittelbarer Nähe des Abortkübels.

(S. 13 ff)

© 2015 Residenz Verlag, St. Pölten.

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