Der Freitagnachmittag war Fußballnachmittag im Ort. Und der Pfarrer achtete darauf, dass die Burschen rechtzeitig zum Anpfiff auf dem Feld oder in der Halle waren. Je nach Jahreszeit. Dafür hatten ihm Generationen von Ministranten versprechen müssen, nie vor den trauernden Angehörigen eines Verstorbenen auf die Uhr zu schauen.
Am Anfang seiner Zeit hatte der junge Krippler sogar das Uhrentragen beim Messdienen verboten. Anders glaubte er der Unsitte des Auf-die-Uhr-Schauens nicht beizukommen. Denn das hatte sich gründlich eingebürgert, das Auf-die-Uhr-Schauen der Ministranten.
Schuld daran war sein Vorgänger und dessen Umgang mit kirchlicher Zeit. Er war nicht berechenbar gewesen, was seine Zeiteinteilung anbelangte. Hatte er ausreichend getrunken, waren die Messen kurz. Weil ihn das Predigen nicht freute, oder weil er einfach ganze Gebetsgruppen vergaß.
Weil er sich nach dem nächsten Glas sehnte.
Weil er jede Illusion verloren hatte.
Hartnäckig hielt sich das Gerücht, er habe im Rausch sogar einmal die Existenz Gottes in Frage gestellt. Nur, um eine Diskussion rasch zu beenden.
Jedenfalls: Wenn er ausreichend getrunken hatte, wollte er wenig Zeit für Gott vergeuden. Und schnell zu seiner Wirtschafterin nach Hause kommen. Insofern war Verlass auf ihn. Aber nüchtern war er wie ausgewechselt. Ein anderer. Dann versuchte er, alle Versäumnisse nachzuholen. Tröstete Hinterbliebene länger, als ihnen angenehm war. Lobte einen Verstorbenen zum Erstaunen aller weit mehr, als ihm zugestanden wäre. Und vergaß in seinem Eifer Maß und Zeit. Erst die Blicke der Ministranten auf ihre Handgelenke machten ihn auf seine Ausschweifungen aufmerksam. Dann kam er rasch zu einem Ende. Brach stotternd mitten im Gedanken ab. Unwirsch, unvermittelt, und mürrisch. Weil ihn die Zurechtweisungen anwiderten. Und weil er fürchtete, die letzten Ministranten zu verlieren. Und die Messbesucher glaubten erst recht, dass er wieder einmal zuviel getrunken hätte. Der Vorgänger Kripplers.
Trotz allem beneidete Krippler ihn oft um die Möglichkeiten der Macht seiner Zeit. Um die Rolle, die der Glauben noch gespielt hatte.
Aber Blicke auf die Uhr duldete der junge Krippler nicht. Die Zeit, die er für Gott vorgesehen hatte, durfte niemand in Frage stellen. Schon gar nicht Kinder. Und überhaupt nicht wegen eines Fußballspiels.
So lagen die Uhren der Ministranten in der Sakristei und tickten vor sich hin. Während ihre Besitzer Krippler und seinem Herrn dienten.
Aber im Laufe der Jahre war Krippler milder geworden. Wie vielem anderen gestattete er auch der Zeit, eine Rolle zu spielen, neben der, die er für sich selbst ausgesucht hatte.
© 2006, Skarabaeus, Innsbruck-Bozen-Wien.