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Leseprobe: Melitta Breznik - Der Sommer hat lange auf sich warten lassen

Basel Juni 2011
Manchmal vergesse ich, wie laut die Münsterglocken sind, wenn ihr Klang über die Stadt hereinbricht und alle anderen Kirchtürme nach und nach ansteckt. Ich kann in dem Getöse keinen klaren Gedanken fassen, nur zum Himmel blicken und warten. Es liegt auch an den neuen Hörgeräten, deren exakte Einstellung mir und der geduldigen jungen Dame im Spezialgeschäft in der Altstadt so viel Mühe bereitet hat. Ich weiß gar nicht, ob auch andere Menschen für einen Moment ihr alltägliches Tun innerlich unterbrechen, um auf das alles überlagernde Geläut zu hören. Es ist kurz nach Sieben, ich habe noch Zeit.
Ich sehe mich schemenhaft, als junges Mädchen von elf Jahren, die Abendglocken läuten von der Dorfkirche her, ich wate bis zu den Knien im seichten Uferwasser des Teiches im Ried und blinzle in die untergehende Sonne. Augenblicklich spüre ich den kühlen Luftzug des Abends im Nacken, rieche den dunklen Geruch des grünschwarzen Wassers. Der Vater wird mich gleich rufen, die Mutter wartet mit dem Abendessen, der Tisch unter dem Vordach im Hinterhof des Fachwerkhauses ist bereits gedeckt. Der Hund Prinz schüttelt das letzte Nass aus dem schwarzen Fell, lässt nach einem schrillen Pfiff des Vaters den Holzprügel aus den Lefzen fallen und springt im nassen Gras aufgeregt bellend hin und her, um mich zur Eile anzuspornen. Zwei Sommer später sind meine Eltern tot, und den Rüden werde ich bei Familie Schmidt im Nachbarhaus zurücklassen. Ich sehe seinen erwartungsvollen Blick, als Onkel Heinrich mich an der Hand hält, um mich mit sich aus dem Treppenhaus zu ziehen, die Türe fällt hinter uns ins Schloss, und Prinz, der große schwarze Mischling, wird vom kleinen Nachbarsbuben Olf fest am Halsband gezogen. Er wird damals noch lange auch mich gewartet habe.
Drüben auf der anderen Seite des Flusses fliegen drei Kraniche der sanften Biegung des Ufers entlang, und ich stelle mir die Strecke vor, die sie noch zurücklegen, bis sie hinter dem Stauwehr landen werden, dort wo es keine Häuser gibt, wo die Flussufer, mit Schilf bewachsen, die Strömung verlangsamen und Reiher im seichten Wasser waten, in träger Langsamkeit, von Zeit zu Zeit ruckartig vorangetrieben durch einen Schritt. Dort habe ich mit Alexander bei unseren regelmäßigen Radtouren an der Uferböschung gepicknickt, hinter uns im dichten Grün, in regelmäßigen Abständen standen graubraune Betonklötze, hockten dort dumpf ins Dickicht geduckt, als letzte Zeugen der blutigen Grenze zwischen Deutschland und Frankreich in den Vierzigerjahren. Als sie gebaut wurden, wohnte ich in Wien bei Tante Else und Onkel Heinrich und hatte nicht die geringste Ahnung, dass ich später einmal in Basel leben würde. Wenn ich die Ungetüme dort sah, drängte ich die Bilder zurück, die sich unweigerlich einstellten, aus der Zeit im Krieg zwischen Fliegeralarm und Dienst im Krankenhaus und dem atemlosen Lauf zum Bunker. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich nach einem Bombenangriff an die Hauswand gedrückt gelegen bin. Ich hatte den Bunker nicht mehr rechtzeitig erreicht und mich auf den Boden geworfen. Passanten, die in der Straße versuchten, die Verschütteten zu bergen, hatten geglaubt, ich sei tot. Ein Jahr später stürmten am Ende des Krieges russische Soldaten die breite Treppe des Krankenhauses hinauf, in dem ich als Hilfsschwester gearbeitet hatte. Sie schossen die notdürftig verbarrikadierten Eingangstüren mit Maschinegewehrsalven auf, dass die Holzsplitter hinauf bis in den zweiten Stock des Stiegenhauses stoben. Mit vier anderen Schwestern und einer Ärztin hatten wir uns vor dem Eingang des damaligen Lazaretts aufgestellt. Nichts hatte ich Max davon erzählt, wie die Männer mich festhielten und schlugen, wie einer nach dem anderen sein Geschäft brutal an mir verrichtete bis mein Geschlecht blutete und meine Beine wie gelähmt waren. Ich sehe die Bilder aus der Entfernung von fast siebzig Jahren an mir vorüberziehen und möchte nicht wieder in die Haut von damals schlüpfen und fühlen müssen, wie es wirklich war. Davor habe ich Angst, daran will ich nicht erinnert werden, aber ich weiß, all das liegt in meinem Körper begraben. […]

S. 41f.

London Juni 2011
[…] In den letzten Jahren habe ich versucht, Mutter besser zu verstehen und die Geschichte ihrer und letztendlich auch meiner Familie kommt mir vor wie die Chronik eines schleichenden Verlusts, angefangen mit dem Tod ihrer Eltern, über den sie nie sprach, ich vermute, sie vermied es, um nicht hemmungslos losweinen zu müssen. Den unerwartet frühen Tod meines Vaters, ihres Ehemanns, hat sie auch nicht verwunden, selbst wenn ich das früher immer geglaubt hatte. Das schwierige Verhältnis zu mir hat ihr das Leben sicherlich nicht einfacher gemacht. Sie bewahrte immer Haltung, was in manchen Situationen für mich unerträglich war, hätte ich ihr doch gerne bereits als kleines Mädchen, wenn sie traurig war, zum Trost einen Kuss auf die Wangen gedrückt. Das gelang mir nur selten, weil sie rasch wieder zur Tagesordnung überging, sich wegdrehte und mit gefasster Stimme etwas von sich gab, das ablenken sollte. »Ach lass die alten Geschichten« oder »Tote soll man ruhen lassen.« Auch später, als ich längst erwachsen war, konnte ich ihr nicht sagen, dass ich mir vorstellen konnte, wie sehr sie ihre Eltern vermisst haben musste, denn unweigerlich wäre Vaters Tod und meine Sehnsucht nach ihm ins Spiel gekommen, und wenn ich etwas in diese Richtung auch nur andeutete, hätte das in Mutters Ohren wie ein Vorwurf geklungen. Vielleicht können wir uns diesmal erzählen, was uns in all den Jahren, in denen wir uns manchmal, wenn wir uns sahen, fast bis zur Gewalttätigkeit streiten konnten, umgetrieben hat.
S. 70f.





















































































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