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Leseprobe: Walter Kohl - "Wie riecht Leben?"



Der Geruchssinn gilt als Sekundärsinn. Genauer: Er gilt eigentlich als gar nichts. Primärsinne sind die sogenannten Fernsinne, das Sehen und das Hören. Sekundärsinne sind die Nahsinne, das Tasten und das Schmecken. Wobei "primär" und "sekundär" Werturteile darstellen. Je nach persönlicher Laune und Einschätzung des Urteilenden steht der Geruchssinn auf dieser Skala bestenfalls bei den Nahsinnen, häug auch noch unter ihnen. Riechen gilt als ein Sinn von sehr geringer ästhetischer und ethischer Bedeutung. Schon Aristoteles hat dieses Ranking aufgestellt, und es ist nach wie vor in Kraft. Kant fand den Geruchssinn lästig, Schopenhauer bezeichnete ihn als inferior, für Hegel war jede ästhetische Erwägung zum Riechen überüssig.
Ich halte es für einen Irrtum, dass jeder glaubt, der Sehsinn wäre der wichtigste. Der Geruchssinn wird im Allgemeinen völlig unterschätzt und der Sehsinn enorm überschätzt, genauso wie der Hörsinn. Die Unterschätzung des Geruchssinns rührt zum einen daher, dass er aus so tiefen und alten Schichten der Stammhirnentwicklung stammt, dass er ganz und gar selbstverständlich geworden ist. Zum anderen fällt einem der Geruchssinn nicht auf; solange er funktioniert. Und wenn er ausfällt, merkt man auf einer oberächlichen Ebene nicht wirklich etwas Dramatisches.
Es kann sich niemand vorstellen, wie das ist, wenn man nichts riecht. Niemand hat eine Ahnung, wie stark und mächtig das Riechen ist. Man hat Tests gemacht mit Studenten. Zuerst zeigten sie ihnen Fotos von Frauen, verschiedene Frauen, jeden Alters, jeder Haarfarbe, unterschiedlichst in Körpergröße, Brustumfang, Form der Hüften und des Hinterns, Länge der Beine. Die Studenten reagierten wie erwartet. Dem einen geelen diese und jene Frauen, dem anderen andere, und dem Dritten wieder andere. Aber alle hatten sie klare Favoritinnen, also Frauen, die sie bei der anschließenden Befragung als besonders schön und sexy bewerteten. Und jeder hatte ein paar Frauen angekreuzt, die er weniger attraktiv empfand, so er sich vornehm ausdrückte. Die hässlich waren, potthässlich, einfach gesagt.
Dann entließen sie die jungen Herren in eine Mittagspause. Am Nachmittag strichen sie ihnen winzige Mengen von Kopulinen auf die Haut zwischen Oberlippe und Nasen– löchern. Kopuline sind ein zu den Pheromonen gehörendes, nach nichts riechendes Gemisch von kurzkettigen Fettsäuren im Vaginalsekret geschlechtsreifer Frauen. Nehmen Männer mit ihren Riechorganen diese Lockstoffe aus dem Scheidenschleim in der empfängnisbereiten Phase des weiblichen Zyklus wahr, dann regt sich unbewusst der Trieb, sich zu vermehren. Und zwar mit so großer Macht, dass man sich kaum dagegen wehren kann. Nun mussten die Studenten dieselben Frauenfotos noch einmal ansehen. Dabei die ganze Zeit eingenebelt von einer unsichtbaren und unriechbaren Wolke von Molekülen aus dem weiblichen Inneren. Und siehe da: Bei der nächsten Befragung waren für alle Studenten alle Frauen schön und attraktiv. Ein bisschen Pheromon, und jeder Mann sieht in jeder Frau die schönste Frau auf Erden.
Belastender als die Unfähigkeit, geschlechtsbereite Frauen mit meinen Riechorganen wahrzunehmen, ist für mich die Heimatlosigkeit. Keinen Geruchssinn zu haben, bedeutet letzten Endes, keine Heimat zu haben.
(S. 14f)

© 2009 Paul Zsolnay Verlag, Wien.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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