Es war nur ein undeutliches Gefühl gewesen. Doch als solches bestimmender als alle anderen weit klarer benennbaren Wegmöglichkeiten oder Risiken. Und so ging ich, statt umzudrehen, nur schneller ins Tal hinein, bis mir die Auskunft der beiden Tourengeher zumindest die Aussicht auf eine Überquerung der Scharte am nächsten Morgen öffnete. Auf den spätestens nun zum ersten Mal spürbaren Hunger achtete ich nicht. Viel mehr beschäftigte mich die Tatsache, dass durch die Übernachtung unterhalb der Scharte die Etappe nach Oberstdorf länger wurde. Von dort musste ich übermorgen nach dem Schuhkauf noch am selben Tag bis zur Mindelheimer Hütte gelangen, um überhaupt eine Chance zu haben, die Strecke über Hochtannberg- und Schadona-Pass ins Große Walsertal und hinaus nach Feldkirch in fünf Tagen zu gehen, von wo aus ich am kommenden Mittwoch zur Lesung nach Klagenfurt fahren musste.
Als ich zwei Stunden später ins Tal zurückschaute, konnte ich kaum glauben, was ich in dem steilen, doch kurzen Anstieg erlebt hatte. Dabei spürte ich immer noch das Zittern im Körper. Doch es war nichts gegen den Schwindel davor. Ich hatte vor dem Schlussanstieg noch eine kurze Rast an der Unteren Lichtalpe gemacht, jedoch nur Durst verspürt, hatte an der Quelle getrunken, meine Flaschen nachgefüllt und war weiter. Kurz nach der Abzweigung von der Forststraße hatte es dann begonnen. Und es war mit nichts vergleichbar, das ich von Erschöpfungen, Müdigkeit oder Muskelübersäuerungen bislang kannte, nicht in Wettkämpfen, nicht in Trainingslagern. Es war keine Schwere, kein Krampf, es war vielmehr das Gegenteil: ein Überdrehen, das immer mehr ins Leere ging, als fänden die Bewegungen im Körper keinen Halt mehr. Weder die Arme noch die Beine, weder der Atem noch das Herz.
(S.238f)
© 2010 C. Bertelsmann, München.
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