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Robert Prosser: Phantome.

Leseprobe:

In Bosnien ertappte ich mich oft dabei, dass ich ältere Leute ansah und mich fragte, auf welcher Seite sie im Krieg gestanden, ob sie Opfer oder Täter gewesen waren. Ich beobachtete, wie ein Kellner Kaffeepulver ins Kännchen schippte, eine Frau unterm Schirm geduckt durch den Regen lief, und ich vermutete hinter jedem dieser Handgriffe einen Mörder oder einen Ausgelieferten, Schutzlosen, ich sah in solchen Bewegungen, wie man vor mehr als zwei Jahrzehnten erbeutete Geldscheine zählte oder vor Granaten floh. Und dann dachte ich mir immer, Junge, reiß dich zusammen, Bosnien ist nicht nur der Krieg. Zieh die NGOs ab, die Politik und den Gewaltporno der blutigen Stories, und was bleibt? Ein kaputtes Land, sicher, aber eins voll mit Leuten wie Tiger, der deutschen Gangsta-Rap hört und einfach mal Spaß haben will und einen Job, der im Monat mehr einbringt als vierhundert Euro, Jungs und Mädels, die in klapprigen BMWs durch die Berge rumpeln, auf Wohnblockdächern Cévapi grillen und keinen Bock mehr haben, ständig auf die Vergangenheit reduziert zu werden, die nix mehr wissen wollen vom Krieg. Das ist die eine Seite der bosnischen Gegenwart.
Die andere sieht so aus: Am Montag, dem 13. Juli, verließen Tiger, Sara und ich Srebrenica. Auf dem Weg nach Tuzla kamen wir erneut durch Kravica, und diesmal war das Dorf voller Polizisten. Sie kontrollierten die Zufahrten, standen in Seitengassen und bewachten die Lagerhallen. Im Vorbeifahren erkannte ich an den zerschossenen Wänden anstelle des grinsenden Putin Blumenkränze. Offenbar waren frühmorgens die Mütter, Frauen und Kinder der Getöteten aufs Grundstück geklettert, und bevor die Aufpasser der Nachbarschaft was mitbekamen, hatten sie Putin von den Mauern gerissen und die Blumen niedergelegt. Wenn sonst nichts darauf aufmerksam macht, was vor zwanzig Jahren hier geschehen ist, dann wenigstens dieser würdevolle, private Akt des Gedenkens.
Als wir wieder in Tuzla waren, wo uns Refika und Vehid und Tigers Clikk über das Wochenende ausfragten, ehrlich interessiert an unseren Eindrücken, da waren sowohl Sara als auch ich belebt, so seltsam das ist, wir waren erfüllt, ja, wegen all der Geschichten, wegen der wütenden Menge, die Vu?i? vom Friedhof vertrieben hatte. Die drei Tage Intensität, die drei Tage Tod und Sonnenbrand und Spektakel steckten uns in den Knochen, drei Tage Erzählungen von Verlust und Weiterleben, von schönen Pferden, verschollenen Ehemännern und Söhnen, und ich war froh, dass es vorbei war, wir bald zurück nach Wien fahren würden.

Und seitdem ich zu meiner eigenen Version von Bosnien gekommen bin, zur Einsicht, dass dort ein fortlaufender Widerstand geschieht, gegen die Politik und die Propaganda und für die eigenen Würde, frag ich mich, wie viel wert im Vergleich dazu das Sprayen ist. Kein Piece hat dieselbe Tragweite wie ein Blumenkranz an der Lagerhalle in Kravica. Und kein Piece ist so provozierend wie ein Putin-Poster an ebendieser Hallenwand. Was kann Graffiti? Frag ich mich. Leave your mark on society, klar, Graffiti nimmt das wortwörtlich. Was sich wie ein Werbespruch anhört, ist das, was Graff dir bietet: Du hinterlässt dein Zeichen, dort, wo alle es sehen. Aber die meisten Menschen können nicht lesen, was auf der Bahn oder der Mauer steht, also wofür soll das gut sein?
Darauf hab ich eine Antwort: Ich. War. Da. Und Graff hinterlässt nicht nur draußen Spuren, sondern ebenso in mir. Dadurch bewahre ich mir eine rebellische Einstellung, ist jede Spray-Aktion ein Update dieser Geisteshaltung. Es bleibt die Erfahrung, dass man sich nicht alles gefallen lassen darf.
Jetzt ist es still. Kein Vibrieren mehr von durchfahrenden Us. Betriebsschluss. Ich duck mich an die Kabel und Kisten, konzentriere mich. Ein paar Meter entfernt die Eisenleiter hinab. Es ist 00:52. Bis um halb fünf sind die Bahnen abgestellt, werden vorbereitet für die erste Ausfahrt in den neuen Tag, wenn an einer Garnitur mein Name gemalt sein wird. Im Rucksack die Spraydosen, im Kopf die Linien und Farbeffekte. Im Bauch ein mulmiges Gefühl. Meine Hände kribbeln, der Atem geht schneller. Noch eine Etage tiefer, entlang der Gleise zu einem Seitentunnel. Also los.

(S. 84-86)

© 2017 Ullstein fünf, Berlin

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