Das Labyrinth
Eine Baugeschichte
aus Kreta
Im großen Wind aus Afrika zerrissen und verflogen die Wolkenbänke über Kreta. Knossos schlief. Nur die Hunde des KÖnigs streunten durch die dämmrigen Säle des Palastes und fraßen am Unrat des vergangenen Abends. Was ihrem Hunger zuviel war, verscharrten sie im Sand der Höfe. Dort rauschten Palmen. Durch die steinernen Gänge, die sich so oft verzweigten und kreuzten, die breiter und schmäler wurden und einmal ins Freie, dann wieder in die Tiefe des Palastes führten und irgendwo in der Finsternis endeten, schritt nun ein Mann, behutsam, leise, um niemanden vor der Zeit zu wecken. Der Bote.
Es war ein böses Zeichen, wenn der Bote vor Sonnenaufgang kam. Das Zeichen bedeutete, der König hat keine Ruhe gefunden, hat schwer geträumt und erträgt nun die Länge der Nacht nicht mehr, bedeutete, der KÖnig will Rat, Besänftigung, vielleicht Trost. Aber was immer der König um diese Stunde forderte, forderte er von seinem athenischen Gast.
Der Bote war angekommen, hielt zwei, drei Atemzüge lang inne; horchte. Dann schlug er einen Vorhang zurück, den die Zugluft hinter ihm wieder glatt strich, trat an das Bett des Atheners, beugte sich über den Schlafenden, berührte ihn an der Schulter und sagte sanft, Daedalus, steh auf, der Herr Kretas verlangt nach dir. (S. 211)
© 1997, S. Fischer, Frankfurt / Main.
Publikation mit freundlicher Genehmigung des Verlags.
|