Ins Wirthaus Zum Sieg eintreten und von der Atmosphäre abgestoßen oder eingefangen zu werden, war eins. Boris wankte einige Augenblicke diesen Grat entlang ... dann, als er sich in einen Winkel setzte, stieg der Trubel im Lokal wieder an, der bei seinem Erscheinen verebbt war: Er legte die Kamera, die mit Blitzgerät und Weitwinkelobjektiv ausgerüstet war, auf die Holzbank neben sich und sah sich um. Najev hatte ihm erzählt, dies sei jahrelang das Stammwirtshaus eines begnadeten Schauspielers und Literaten gewesen: Helmut Quasi Qualtinger, eine zweischneidige Berühmtheit, von den Österreichern geliebt und gehaßt, kaltgelassen habe der wenige. In seiner massigen Figur habe sich der hiesige Kleinbürger auf das entsetzlichste gespiegelt gesehen.
Boris bestellte Osterbockbier und eine serbische Bohnensuppe. Offensichtlich kannten die meisten Gäste einander; man mischte sich - über Tische hinweg - in Gespräche ein; man pflegte einen gemeinsamen Tratsch (Alltägliches, Politisches, Pferderennen, Fußball et cetera); es war wie ein Spiel mit überlieferten Rollen: Statisten, Neben- und Hauptrollen, Stars ... eine Serie, für die sich das Drehbuch lange schon von selbst fortschrieb ... (S. 83)
Stoppbad ... Fixierbad ... Wässerung. Boris entwickelte die Negative, bedächtig, mechanisch beinah, wie schon so oft. Wieder einmal mußte dieser Linkshänder vor ihm gearbeitet haben. Marie lehnte schräg hinter ihm in einer Ecke des Labors. Sie sah ihm nur zu, sagte nichts. Unter ihrem Blick fühlte er sich gut; es war ein wenig, als faßte sie mit an. Er schnitt und ordnete die Negative, während sie stumm in der Ecke lehnte. Manchmal drehte er den Kopf ein Stück und sah kurz auf - um einen flüchtigen Blick auf sie zu werfen. Sie schien über etwas nachzudenken. Wenn sie aus sich heraus oder, wie jetzt, in sich geht, dachte Boris, erscheint dieses andere Gesicht. Das Keep smiling der Branche, dachte er, das hat sie gelernt, dieses Lächeln, sieht meist aus wie aufgezogen, doch es ist eher ein Grinsen, und man wird den Eindruck nicht los, daß nur die Gesichtsmuskeln lächeln. Aber wenn sie, wie jetzt, einfach so dalehnt und in sich geht, dann fällt diese Maske, diese Ding, das zum Verkauf bestimmt ist, ab. Das Individuum, hatte Najev gesagt, bedeutet das Unteilbare, das Eigentliche. (S. 106)
(c) 1998, Volk und Welt, Berlin.
Publikation mit freundlicher Genehmigung des Verlags.
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