Wäre es also eine einfache Lösung, X einfach weiter in den Tagebüchern lesen zu lassen, lässt der Konjunktiv Sie denken, dass diese Lösung nicht genutzt, muss ich Ihnen zwar eine gute Sprach-, aber eine schlechte Menschenkenntnis bescheinigen, scheinen Sie zumindest mich nicht wirklich gut zu kennen, könnten Sie sich sonst nicht so irren, ist es nämlich tatsächlich so, dass X das letzte der Tagebücher zur Hand nimmt und zu lesen anfängt. Fängt er aber einen Satz an, ist es um die Leere in seinen Kopf geschehen, werfen sich tausende Gedanken auf den Satz und zerfleischen ihn, zerreißen ihn, lassen kein Wort, keinen Buchstaben stehen, geht X also wieder zum Satzanfang zurück, fängt er wieder vom Satzanfang an, verfängt der Satz sich aber gleich wieder in den Fängen von Xs Gedanken, denkt er also, dass er nachdenken muss, die Gedanken ordnen muss, die Gedanken im Schmetterlingsalbum seines Kopfes anordnen muss, von wo ist mir dieses Zitat bloß wieder in den Text gerutscht?, die in den Gedanken angesprochenen Ideen durchüberlegen muss, legt sich aber sofort wieder Leere in Xs Kopf, sobald er von seinem Tagebuch aufsieht, also natürlich nicht von seinem, dem meinen meine ich natürlich auch nicht, meine ich von jenem von Y.
Liest X einen Satz, sind die Gedanken da und das Denken an den Satz vorbei, und denkt X seine Gedanken, sind die Gedanken fort und das Denken an den Satz zurück, den er aber noch einmal lesen muss, weil er beim ersten Mal nicht auf den Satz fokussiert war, muss ich sagen, erinnert das an mich, an mein Schreiben meine ich, bauen sich da auch Sätze vor mir auf, um mein Schreiben zu verhindern, nein, um es abzulenken, umzulenken in Bahnen zu lenken, denen ich weder folgen kann noch folgen will, willenlos verfolge ich ein Wortspiel bis zum bitteren Ende, bitte, ändern kann ich diesen Tick wohl nicht mehr, wahrscheinlicher ist es, dass ich ganz verstumme, stumm nickend stimmen Sie mir zu, jetzt bitten Sie sogar darum, hören Sie, Sie brauchen ja nicht zu lesen, was ich da schreibe, wenn es ihnen nicht passt, Hauptsache Sie kaufen mein Buch, ich schreibe ja nicht, um gelesen zu werden. Werde ich es, verbiete ich es aber nicht, ich schreibe auch nicht, um etwas mitzuteilen, schon alleine, weil ich gar nicht gerne teile, ich schreibe bloß, damit Sie teilen und zwar ihr Geld und zwar mit mir. Mir kommt vor, ich schreibe diesen Satz nur, um Ihnen etwas anschaulich zu machen: Macht die Sprache mit mir, was sie will. Machen die Gedanken das Gleiche mit X. Will er nachdenken, verdenken, nein, verdecken, nein verstecken sie sich verdenken muss man das ihnen!, verdenken auch, dass sie, kaum will er lesen, hervorspringen und über den fremden Satz herfallen, über den Satz von Y herfallen, als gehöre er ihnen, als gehöre er zu X, und machen mit ihm, was sie wollen. Wollen sie zumeist nichts anderes, als den Satz zerlegen, den Satz zerreißen, den Satz unschädlich machen für sich, als hätten seine Gedanken ein Bewusstsein, seien wir uns ehrlich, das kann nicht sein, die Gedanken sind ja sein Bewusstsein, seine Bewusstheit, und arbeiten trotzdem gegen ihn, das darf doch wohl nicht wahr sein, denke ich mir, da sitzt der Feind im eigenen Kopf oder ist der eigene Kopf, und könnt man ihn zwar leicht entfernen, würde das aber auch einen selbst treffen, wie Werther, nur besser, also genauer, also tödlicher.
Nicht tödlich, aber ziemlich heftig ist der Kampf Xs mit seinen Gedanken, liest er jeden Satz doppelt und dreifach und den Absatz wiederum und eine Seite zweimal undsoweiter, blättert er oft ganz zum Anfang zurück oder in die Mitte, aber nie nach vor (es sei denn, zuvor zurück). Und erliest er so, langsam aber doch, Stück für Stück das Tagebuch.
(S.119 – 121)
© 2011 Sonderzahl Verlag, Wien