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Leseprobe: Ditha Brickwell - "Der Kinderdieb."

Otto hält sich an einem Seil, das Polizisten gespannt haben. Er schaut mit der Kraft seines Willens so innig, als könnte er den Kopf dort oben halten, er allein. Dass der Kopf nicht herunterstürze, wünscht er sich so sehr. Jener Körper gehört jetzt ihm. Und einsam soll er oben bleiben. Otto hält ihn dort mit seinen innigen Bitten, spannt seinen Rücken, stemmt sich gegen die stöhnende Menge hinter ihm. Otto wird sich nicht umdrehen, will nicht sehen, wie sie alle starren, wie in jedem Hirn der Schatten siedelt, will nicht hören, dass die Stimmen aufschwirren: "Da ist er! Da ist er jetzt!" Vielleicht ziehen die einen in Gedanken den Menschen und warten, dass er fällt; vielleicht stützen ihn die anderen und hoffen, dass er bleibt - Otto will es nicht wissen. Ein Feuerwehrmann erscheint am Geländer. Wo das Schienenpaar sich gegen den Hügel senkt, in den Einschnitt zieht, von dort her ist er gekommen, mit geduckten Bewegungen, bald werden es viele sein, eine Kette von Köpfen wird die Strecke besudeln, Schwarzflecken im Abendrot. Unten an den Pfeilern legen die Silberhelme ein Sprungtuch aus. "Er soll nicht springen, er soll dort einsam und bei sich selbst sein, einer, der niemanden zur Kenntnis nimmt - auch wenn er herunten den Aufmarsch bewirkt hat, die geschäftige Runde der Blaulichter und Helme." Die heiser gebrüllten Kommandos soll er nicht hören. Ein Mann still im Himmelslicht, am Absturz. Otto hält ihn oben mit seinem Willen, läßt den Atem fahren, reglos. Steht im hohlen Brausen der Stimmen. Ewig währt der Augenblick. Otto schreckt aus einem schrillen Schrei heraus, der ist über ihn gefallen mit vielen Stimmen wie girrendes Flirren, der Kopf oben hat sich hoch über das Geländer gehoben und purzelt, zieht einen Körper nach. Mit geschlossenen Augen dreht sich Otto, schiebt sich zwischen die Leiber, taucht quer durch die Gerüche, stößt gegen Hände und Arme, erreicht die Häuserecke mit Mühe, beginnt zu schnaufen, zu trotten, zwischen den stehenden Gaffern, gegen den Nachthimmel der Neubaugasse hin, ja, schneller und schneller fallen die Fluchtlinien zu ihm her, schwillt sein Atem, wird so laut, dass ihn die Brust nicht halten kann, die Ohren nichts anderes hören als den lauten Schwall der Luft. Otto läuft. Erst unten am Spittelberg kommt er zum Stillstand, ist Otto erschöpft, geht er, wie einer, der fremd ist, ganz neu, soeben auf die Welt gekommen. Hier steht eine Frau, ein Kind an der Hand, sie wissen nichts, die zwei. Aus dem Geschäft hinter ihnen - Wimo, Wiener Molkerei - duftet die Milch. Leere Gesichter an der Haltestelle. Diese Menschen kennen nicht das Schöne auf der Welt - den goldenen Schimmer des Bieres im Krug, wenn der Schaum sich setzt, wenn ein Bub den Liter fürs Nachtmahl des Vaters langsam nach Hause trägt. Der Abend ist voller Wunder, gelbe Fenster leuchten. Am Ende der Stiege ist der Weg neu, stehen die Säulen der Ulrichskirche ganz weiss, dort unten, hinten am Geländer, in der Flucht der Stufen wartet die Freiheit, lauert das Glück auf Otto.
(S. 27f.)

Die Welt dreht sich an ihm vorbei, die Welt hat eine sich beschleunigende Geschwindigkeit, ein schwindelerregendes Drehmoment. Worte, Gedanken, Gesichter: alles wird weggerissen, der Amokläufer steht still. Die Sonne und ich sind ein Paar im gleichmäßigen Abstand zueinander, mein heisses Gesicht und dein weisser Ball. Du kannst mich nicht sehen, und ich kann nicht aufschauen zu dir. Und doch sind es nur wir zwei zwischen den Schlagschatten. Unendlich ist die Zeit. Unendliche Weisse da vorne, ein Tal, glüht wie die Wüste, die Schneise dort unten gleisst wie ein Fluss. Die schmale Eisenbrücke, schwere schwarze Trame tragen den Schritt. Bergab und bergauf, vom letzten Hügel wird man die Felder sehen: Ich werde dich finden, Erszebet, ich werde dich treffen, Liu;
(S. 406f.)

© 2001, Deuticke, Wien, München.
Publikation mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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