Es sind einige maßlos wilde, harte Jahre vergangen, seit B., Udokas Mutter, nach Wien kam. Als wir uns kennenlernten, erzählte sie mir, sie sei vor ein paar Tagen oder Wochen am Stadtrand von Wien von einem Lastzug gesprungen und habe sich im Gebüsch versteckt, bis der Lastzug weitergefahren wäre. Die Wege dieser Menschen, sie erklären sich nicht, bleiben sorgsam gehütete Geheimnisse; sogar die Entfernungen sind nicht so einfach umkehrbar, denn von Afrika nach hierher dauert es wesentlich länger als von hier zurück nach Afrika. Ein andermal kam sie mit dem Flugzeug, dann wieder mit dem Schiff, ist gewandert, geflogen. Es spielt keine Rolle. Warum soll sie jemand anderem mehr glauben als sich selbst?
Es war Anfang Januar, als wir uns begegneten, Samstag, Mittagszeit, ein kalter, nasser Tag, an dem es vielleicht gar nicht so schlimm gewesen wäre, sich reinen Alkohol zu spritzen. B. hatte an einer Ampel am Gürtel auf Grün gewartet, und ich war zufällig neben ihr gestanden und hatte gedacht, was ist das für ein Mensch, wie lebt er und wo? Ich fühlte mich einsam, und die Einsamkeit war wie ein Schmerz, der mich traurig machte, wie jeder Schmerz traurig macht, fühlte mich alt genug, um mich nicht mehr hundertprozentig zu verlieben, wollte Worte, irgendwelche Worte, den Klang einer Stimme, die mich nach meinem Namen fragt, einen Blick, Afrika nahe kommen, Afrika berühren, eine exotische Übung der Seele. Und während der Zebrastreifen im Regen unterging, sprach ich sie an – und, ich schwör's! –, ich hatte noch nie zuvor eine Frau auf der Straße angesprochen. Man hört sich reden und versteht die Welt nicht mehr. Wintereinsamkeit, könnte man sagen, obwohl die Einsamkeiten des Sommers viel schlimmer sind. Sind wir nicht alle Fremde in der Welt unserer Gefühle? Sie war einfach, fast ärmlich gekleidet, grauer Kapuzenmantel, graue Jeans. Zum ersten Mal, daß sie diese Kälte erlebte. Die Haare hingen ihr naß im Rücken, zu hüftlang herabhängenden Zöpfen geflochten, aus denen Feuchtigkeit troff. Am Uhlplatz an der Breitenfelder Kirche kam ich neben ihr zu gehen und fragte sie nach ihrer Telefonnummer, sie schrieb sie mir auf die Rückseite eines Fahrscheins, ich fühlte mich irgendwie beschenkt.
In meiner Vorstellung war sie zu Besuch bei einer afrikanischen Familie in der Josefstadt, der Vater Mitglied des diplomatischen Korps, die Mutter Ethno-Galeristin oder etwas in der Art. Ich habe drei strenge Tage gewartet, bis ich die Nummer anrief, die sie mir gegeben hatte, dachte, sie würde mich auslachen, wenn ich ihr den Vorschlag machte, uns zu treffen. Sie hat nicht gelacht, und wir haben uns getroffen. Sie wartete Ecke Florianigasse/Blindengasse, zu dünn angezogen, gekrümmt von der Januarkälte.
Wir gingen auf einen Kaffee ins Café Florianihof. Der Kellner hatte blond gefärbtes Haar, und ich bestellte Cappuccino für uns. B. rauchte Kette und erzählte, sie habe einen Schlafplatz in einem Flüchtlingsheim der Caritas in einem Zimmer mit vier Stockbetten. Acht Frauen, erzählte sie, sind in dem Raum untergebracht, in dem sie schläft, ihr Bett sei oben, neben dem Fenster. Dann machte sie nach, wie laut eine der Frauen schnarcht, lachte.
Das Flüchtlingsheim liegt zwei, drei Häuser von meiner Wohnung entfernt, und die straßenseitigen Fenster dort gehen auf die vergitterte Fassade des Herrengefängnisses, wie es im Volksmund genannt wird. Weit über tausend Häftlinge sind hinter diesen Mauern weggesperrt. Wenn ich aufs Dach meiner Wohnung klettere, kann ich die Wärter in der Kontrollkuppel erkennen und ein paar Fenster eines Zellentrakts. Wo kann die Erde fremder sein, in Afrika?
(S. 16ff.)
© 2009 Jung und Jung, Salzburg.