Als ich den Folterkeller zum ersten Mal betrat mit elf Jahren, ordnete ich die Geräusche zu, die ich kannte, die Schreie, das Stöhnen, das Wimmern und Grunzen. Ich bevorzugte jene Kunden, die sich knebeln ließen und mich somit nicht von den Hausaufgaben ablenkten oder von Serien mit schönen Menschen, die in schönen Häusern lebten und schöne Dinge taten. Die Stille war das größte Geschenk, das man mir machen konnte in jener Zeit, und wenn es Sommer war, verbrachte ich meine Nachmittage im Park, nicht in unserem Stadtviertel, sondern dort, wo die Bauten standen, in denen ich leise Menschen von großer Güte vermutete. Allerdings musste ich vor Sonnenuntergang zu Hause sein, das Bordell war von elf Uhr vormittags bis vier Uhr morgens für Publikumsverkehr geöffnet. Mutter hatte Angst, dass ich draußen in schlechte Gesellschaft geraten könnte. Das war komisch, obwohl ich es damals nicht so sah.
Man verdrängt alles und vergisst nichts. Bis heute kann ich es nicht ertragen, wenn Männer beim Sex auch nur einen Laut von sich geben. Obwohl ich schlecht höre, gibt es Geräusche, die in mich eindringen wie Messer. Weshalb ich um Lautlosigkeit bitte, bevor ich mit einem ins Bett gehe, um absolute Stille und musikalische Umrahmung. Egal, was gespielt wird, jedoch am liebsten Sinatra oder Presley oder Dean Martin. Die Muttermilch war nicht von guter Musik verseucht. Ich habe einen Schnulzengeschmack, den ich bei Bedarf verleugne. Im Grunde kann ich alles von mir leugnen und so sein, wie man mich haben will - wenn es von Nutzen ist.
"Alle Männer sind Schweine", sagte meine Mutter. Sie war nie sehr originell in ihren Äußerungen, aber sie war eine gute Frau, die ihre Tochter mit Kuchen, rosa Kleidern, Lackschuhen udn Silberschmuck verwöhnte. Jeden Sonntag, wenn geschlossen war, gingen wir gutbürgerlich essen und anschließend ins Kino. Was nicht in Alkohol umgesetzt wurde, ging im Konsumrausch unter. Alle Huren waren so, sie kauften wahllos, was sie für Geld bekommen konnten: Dessous, Kleider, Schuhe, Schmuck, Nippes für die Wohnung mit der Blümchentapete - und kleine Pillen, die der Arbeitswelt ihren Schrecken nahmen. Sie waren nicht anders als die Frauen, die ich heute kenne, nur eben unverblümter, unvermögender ... und noch trauriger.
(S. 12 f.)
© 2001, C. Bertelsmann, München.
Publikation mit freundlicher Genehmigung des Verlags.
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