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Michael Köhlmeier: Abendland.

Roman.
München: Hanser, 2007
800 S.; geb.; EUR 24.90.
ISBN 978-3-446-20913-8.

Link zur Leseprobe

Ein wunderbares Buch. Ein großer Roman, im wahrsten Sinne des Wortes, der Lyotards postmoderne These vom Ende der Grand Narratives Lügen straft. Der Österreicher Michael Köhlmeier stellt sich der Herausforderung, das Panorama einer ganzen Epoche zu entwerfen. Es gelingt ihm mit seinem neuen Roman ein mutiger, ein kühner Wurf: es ist der Versuch, im Rahmen einer literarischen Schöpfung das ganze Abendland, wie der Titel etwas großspurig lautet, ein ganzes Jahrhundert mit all seinen Irrungen und Wirrungen in Sprache zu bannen.
Vielfältig die Ereignisse - der Weltkrieg, der Nürnberger Prozess, der Deutsche Herbst, die Entwicklung der Atombombe, der kalte Krieg, vielfältig die Schauplätze - Wien, New York, Lissabon, Moskau, die Vereinigten Staaten von Amerika, Afrika, Hiroshima und Nagasaki - geschickt jongliert Köhlmeier mit Namen und Daten, wirbelt Mutmaßungen und historische Fakten durcheinander, ohne je die Zügel aus der Hand zu geben. Elegant, souverän, klug spielt er auf der Klaviatur der politischen und historischen Wechselfälle.
Mit beeindruckendem epischem Atem holt er weit aus, schafft es, Herr über diese gewaltige Stofffülle zu bleiben, schlägt mal laute, mal leise Töne an, verliert über das Große den Blick für die feinen Nuancen nicht, sondern versucht vielmehr, am Beispiel einer Familie im Sinne des Goethe'schen Begriffs der Wahlverwandtschaften aufzuzeigen, welchen Einfluss die großen historischen Sündenfälle auf die privaten Verhältnisse einzelner Menschen haben: "Abendland" ist daher weniger ein historischer als vielmehr ein Generationenroman, er holt das Politische in den Raum des Privaten, das Private in den Raum des Politischen.

Er erzählt die Geschichte des Lebens des Carl Jakob Candoris, "Mathematiker, Weltbürger, Dandy und Jazz-Fan", der nun, im Alter von 95 Jahren, gegenüber seinem Patenkind, dem Schriftsteller Sebastian Lukasser, Sohn des legendären Jazz-Gitarristen der Wiener Nachkriegszeit, Georg Lukasser, seine Lebensbeichte ablegt. Carl hatte sich damals des lebensunfähigen genialen Musikers Georg angenommen, hatte ihn, der unterschiedlicher als der kluge, überlegte Vernunftmensch und Mathematiker Carl nicht sein könnte, und mit ihm dessen Familie, die Ehefrau Agnes und den Sohn Sebastian, unter seine Fittiche genommen. Sebastian, inzwischen selbst Vater, wenn auch von der Mutter und dem gemeinsamen Sohn David getrennt lebend, soll nun das Leben dieses charismatischen, exzentrischen Mannes aufschreiben, eine Aufgabe, die ihn gleichzeitig dazu zwingt, seine eigene Familien- und Lebensgeschichte zu reflektieren. Und im Zuge dieses Nachdenkens über das eigene und das Leben der anderen, entsteht ein Roman voller Schönheit und Verzweiflung, voller Freude und Leid, voller Verlust und Versöhnung.

"Abendland" ist ein Roman über das Leben und den Tod, über Schuld und Sühne, über Krieg und Frieden, über Männer und Frauen, Väter und Söhne, Musik und Mathematik. Es ist ein weises Buch, voller Detailwissen und Bildung. Es will alles sein, und alles gleichzeitig in Vollendung - Biographie, Entwicklungsroman, Geschichtsunterricht und Familienportrait, psychologische Studie und Gesellschaftsbild - ein, nein, der Jahrhundertroman des Abendlandes, wie es der ehrgeizige Titel verspricht, und scheitert vielleicht an eben diesem ehrgeizigen Anspruch. Wie auch seine Hauptfiguren letztlich Scheiternde sind, und noch nicht einmal grandios Scheiternde: der geniale Musiker und Alkoholiker Georg Lukasser, der zerbrochen an der mangelnden Größe des Daseins Hand an sich legt, seine Frau Agnes, die sich ins Exil, in die Abgeschiedenheit eines Klosters, in die Sprachlosigkeit flüchtet, Carl, der Übermensch, Mathematiker, Musikkenner, Mäzen, Whisky-Händler, Professor, der dem Leser jedoch als greiser, morphiumabhängiger, pflegebedürftiger Mann entgegentritt, um Geständnis abzulegen, oder auch Sebastian, der Erzähler, eigentlich ein Mann im besten Alter, der nach einer Prostataoperation an Inkontinenz und Impotenz leidet, und seinem eigenen Sohn als Fremder begegnet. Doch vielleicht ist es eben dieses Scheitern, das letztendlich den bittersüßen Zauber des Romans ausmacht, denn aus alledem spricht eine tiefe Zuneigung zu den Menschen, selbst im Scheitern bewahren sie ihre Würde, sie sind menschlich, allzu menschlich. Und darin groß. Voller "Glaube, Liebe, Hoffnung", oder, wie Carl die Reihenfolge umdreht, voller "Liebe, Hoffnung, Glaube. Wenn ich den anderen dabei zusehe."

 

Martina Wunderer
15. Oktober 2007

Originalbeitrag

Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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