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6. Station: New Logic
Mushislav und der Töpfer hakten sich links und rechts bei mir ein - merkten wohl, dass ich schon getrunken hatte, so eifrig und ungeniert schaute ich nach links und rechts auf ihre Profile - und gingen mit mir in das New Logic. Das war eine Bar mit vielen vereinzelten Kojen und Zimmern. Bunte Drinks schmückten, sobald wir eingetreten waren, unsere Hände, und wir wurden die Drinks nur umständlich los, unsicher, inwieweit wir sie wirklich trinken sollten. Schalen von Konnyakustreifen mit geronnenem Ei beleuchteten die Untätigkeit unserer Essstäbchen von unten. Ich stellte die Schälchen nebeneinander auf die Fensterbank eines blinden Papierfensters, hinter dem offensichtlich eine Neonröhre am Werk war, während Mushislav und ich im Flüsterton Informationen über unser Leben austauschten, die interessanter gewesen wären, wenn wir einander nicht so nahe gegenüber gesessen hätten. Unsere Hände fingen an, im Geist des Orts verheddert, elegante Kurven über die Körper der anderen zu beschreiben, mit den Knöcheln komplizierte Xylophonspiele zu spielen. Ich bildete mir indessen bald ein, Mushislavs Körper sei eine Slotcaranlage, der Töpfer der grüne künstliche Rasen rundherum. Nach einigen Runden merkte ich, dass ich nur mehr den Filz vom Töpfer streichelte, der Töpfer selbst aber in einer Ecke nackt auf Kissen hockte. Das war ein zu fordernder Spagat, ich verschloss gegenüber dem Töpfer die Augen und widmete mich wieder der flitzsilberglitzernden Autobahn Mushislav. Sie zweigte sich, als ob die Erde aufbräche und eine weiße Brust käme heraus. Es war wohl wirklich: seine. Auf der ließ sich weiterfahren, komischerweise hatte ich keine Angst, sondern wechselte in den dritten Gang. Auf einmal ging eine fleischfarbene Schranke auf. Zoll, Unterwelt, wusste ich. Ich hatte diesen Tunnel nicht aufgemacht, er hatte sich selbst aufgemacht, ich konnte das Ereignis freudig und dankbar begrüßen. Ich streichelte die Schranke, dabei ihre zylindrische oder ebene, nicht ganz zylindrische Form besonders hochhaltend und beachtend. Kurz darauf bäumte sich die Erde auf und legte mich auf gummiüberzogene Kissen, wo ich mit dem Rücken landete. Mushislavs lange, spitze Zunge sprach Mantren an meinem Rand, die ich nicht ganz, aber doch immer irgendwie verstand. Alles, was wir taten, war bemerkenswerterweise ganz und gar achsensymmetrisch, wofür ich Mushislav Duckhose unendlich dankbar war. Die Gliedmaßen, die sich rechts von unserer gemeinsamen Körperachse befanden, nahmen, egal ob sie ihm oder mir gehörten, dieselben Positionen, dieselben Bestrebungen an wie die links. Ja sogar oben und unten und in den Gefühlen schien ein launischer Symmetriezwang uns sehr glücklich zu leiten. Wie lange? Wie noch? Warum mochte ich es mit dem Kopf denn so sehr, wie eine gute Sprachlehrstunde? Ich sprang auf und warf Mushislav zu Boden. Sofort war er wieder auf den Beinen und warf mich zu Boden. Ich auf und warf ihn auf den Boden. Wo ist die Schranke, wenn man sie sucht? Er mich wieder, ich taumelte absichtlich und lachend, landete auf den Kissen und deutete mit den Händen, er solle mit seiner Schranke nach vorne kommen, deren Ende mehr wusste, als ich glaubte, bevor ich es wusste, und auch, damit ich mit den vollen Händen um seine Hüften herum seine Arschbacken halten konnte. Nur küssen wollte er nicht. Das war mir ganz recht. Ich hätte, hätten wir uns geküsst, die Hinterseite des Mundes im Kopf verschließen müssen und stattdessen seinen Nacken fassen, was mir das Herz verengt hätte. Bei allen Gerangel schützte jeder von uns seinen Mangel an Liebesbereitschaft als einen Ausgang in die Freiheit und Eingang für die Freiheit, mit der es so angenehm war umzugehen; schützte die Welt davor, von einer zu bestimmten Zuneigung überflutet zu werden. Keiner wollte indessen zugeben, dass er hier war, ohne eigentlich etwas zu wollen. So driftete man dann doch leicht davon. In diese Landschaften von Noppenhaut der Kissen, deren Körnung sich vergrößerte und verkleinerte, in einen Wolkenhimmel, den man einmal in Wittenberg gesehen hatte, in ein Wiehern einer versteckten Sonne, die man sich unter der Achsel des Gegenübers imaginierte, wozu man die Augen aufmachen musste, um nachzusehen, was für Haare dort wohl wuchsen, eine angenehm machbare Aufgabe wie das Suchen eines schönen Zitates an einem bekannten Ort im Bücherregal neben einem. Vom Begehren wurden wir alle fünf Minuten wieder überrascht. Begehren, das schnell aufsprang wie ein Einfall, mit dem man nicht gerechnet hatte. Überrascht auch von der Liebe, die bei jedem von uns ausschließlich der Schönheit des anderen galt, nicht dem ganzen Menschen, den wir ja nicht kannten, aber doch warm und massiv wie jede Liebe. So blieben wir frei. Bei einer Wendung, die uns die Symmetrie während, Seite an Seite brachte, starrten wir plötzlich den Töpfer an, der in seiner Ecke eingeschlafen war. Dann uns, Mushislavs humoristischen fraulich zuckenden Mund, die unendlich schönen, samtigen Mandeln seiner Augen, von dem Braun großer Güte, schwarz indessen wie die Nacht um einen Tempel, fern und nah, statisch und bewegt, kalt und warm, demütig, sanftmütig, stolz - nicht sich verlieren! Wir blickten wieder zum Töpfer. Sein Samenerguss war über die Gummikissen hinuntergeflossen wie der künstliche Wasserfall im Berliner Viktoriapark. Kurz überlegte ich, diesen Reiz für Mushislav mit köstlichen Worten und ausladenden Gesten zu extrapolieren, ließ es aber bleiben. Wir deckten den Töpfer mit seinem Filz zu und verließen eingehängt die Bar. Übertrieben überschwänglich gaben wir uns die Abschiedsküsse von Paradiesvögeln und stolzierten in entgegengesetzte Richtungen davon. Jeder einen langen Pfauenschweif von lautem inneren Lachen hinter sich her ziehend, so viele heitere prachtvoll schimmernde, nachtgeränderte Augen; wie eine Schnur mit leeren Dosen, nachdem man sich soeben wieder einmal mit sich selbst vermählt hat. Zu Fuß ging ich durch den Nieselregen nach Hause, es wurde hell, die Vögel sangen, was ich selbst nicht besser hätte sagen können. Mehr weiß ich nicht. Als ich aufwachte, erinnerte ich mich an etwas, es ist das, was ich gerade versäumt habe zu erzählen.
Aus der Erzählung Seekühe der Kunst (S. 156-186) Textauszug: S. 173-176
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