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Der Standard

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Leseprobe: Ronald Pohl - "Die algerische Verblendung"



(S. 101f)

Ich fuhr los, indem ich rostige Zuggarnituren bestieg, auf deren Trittbrettern verlauste Kabylen kauerten, einen Tuchstreifen vor den Mund gepresst, um den alles durchdrigenden Gestank nach Maniok und Pisse zu ersticken. Ein Heer von Fliegen besetzte die Klassenabteile und behauptete trotzig sein Recht auf ruckelnde Beförderung. Säuglinge krochen lallend über die Korridore, und manch ein Wurm wäre liebend gerne nach Marseille oder Nizza entwischt. Manches Mal fand man ein Baby entseelt auf dem Abtritt - die Spuren von Sabber und Schleim deuteten auf eine überraschende Niederkunft hin, der sich die Eingeborenen wie einer Darmentleerung unterzogen. Dabei spreizten die Kebsweiber ihre Storchenbeine, ohne die Sohlen vom geriffelten Blech des Klosetts zu heben, die schmutzigen Füße rutschten nach Einsetzen des Keuchens nur unruhig wetzend hin und her. Irgendwann - Muttermund und Schoß hatten den anbrandenden Wehen nachgeben müssen - plumpste ein mit Blut verschmiertes Ränzel auf die Einfassung des Spüllochs, an der es sich den noch weichen, ungestalteten Kopf zerschlug. Sei es, dass es zugleich mit der Entsorgung des Stuhls die rollende Mitfahrgelegenheit verlassen musste - in den traurigeren Fällen nahm ich mich der benommenen Mutter an, die ausdruckslos an der Teerpappe lehnte, und schlug das auskühlende Stück Fleisch, an dem eine blaue Schnur herunterhing, in einen Tuchfetzen, den ich bei der nächsten Haltestelle an die frische Luft beförderte. Der Stationsvorsteher musterte mich ungläubig, so als trüge ich ein zerlegtes Gewehr unter dem Arm. Aber Kinder gibt es Algerien wie die Glitzerkörner des sprichwörtlichen Sandes am Meer. Ich begab mich ohne Aufenthalt zum nächsten Brunnen, in dessen Schatten die Esel um die Wette schrien, und überlegte, wie ich den kleinen Körper verschwinden lassen könnte.

© 2007 Literaturverlag Droschl, Graz - Wien.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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