"Seien sie nicht naiv", sagt er zu Elsa. "Wäre ich nicht zufällig Jude gewesen, wäre ich wahrscheinlich auch bei den Nazis gelandet." Elsa stutzt und denkt plötzlich, warum sie in ihrem Alter immer noch daran glaubt, dass Menschen, die das Schicksal ihrer Familie teilen, bessere Menschen sein müssten. Hat sie nicht immer wieder mit brennenden Augen mitverfolgt, wie im neuen Staat der ehemaligen Opfer andere verfolgt und vertrieben wurden? Hat sie sich nicht immer wieder gegen diese Verfolgung und Vertreibung aufgelehnt? Obwohl ihr die Verfolgten und Vertriebenen so fremd waren wie die heute in den Bergen Jugoslawiens Herumirrenden? Warum glaubt sie, fragt sich Elsa, während sie schweigsam neben dem alten Herrn hergeht, daß die Nachkommen der Opfer, ja die Opfer selbst, bessere Menschen sein müssten, das ihnen angetane Unrecht jetzt nicht an andere weitergeben sollten? Würde sie anders handeln, wenn sie in eine solche Situation käme? Oder hat sie einfach nur unglaubliches Glück gehabt, weil sie nie vor die Wahl zwischen Gut und Böse gestellt wurde?
Leben im Exil, denkt Elsa und zum ersten Mal begreift sie, was das wirklich bedeutet haben mag. Nicht die Erzählungen der Eltern, die ihr stets die fröhlichen Seiten ihres Daseins in der Fremde darzustellen versuchten, nicht die vielen Bücher, die sie gelesen hat, haben es ihr so nahe gebracht. Nein. Diese Briefe, die sie da jetzt verschlingt, die lassen sie begreifen, was es hieß, verstoßen zu sein in ein Leben, das fremd schien und es blieb - egal, wie lange das Exil dauerte. Elsa hat lange in verschiedenen Ländern dieses Kontinents gelebt, hat sich auch heimisch gefühlt in einigen, aber - so wird ihr jetzt bewusst - sie war stets frei zurückzukehren, sie konnte mit denen daheim sprechen, sie besuchen, Briefe senden und erhalten. (Wenngleich sie ein bisschen amüsiert ist ob der Klagen des Großvaters, daß Briefe mitten im Krieg zwei Wochen unterwegs sind. Als sie selbst in Italien lebte, war sie erstaunt, wenn die Briefe der Eltern nur zwei Wochen brauchten, von Wien nach Rom, mitten im Frieden.)
(S. 45 u. 200f.)
© 2003, Picus, Wien.
Publikation mit freundlicher Genehmigung des Verlags.