Seite 60/61:
Im Haus meiner Kindheit regiert das Vieh, kontrolliert von Großmutter Hanna. Sie überwacht alles, die Onkel, die Enkel, die Tanten, die Tiere, die Besucher, die Postboten, die Gemüsemänner, die Limonadenlieferanten, die Bäcker, die Birnen, die Kirschen, den Salat. Von Großmutter Hanna gehen die Regeln aus, die alles bestimmen, die alle einhalten, denn sonst fliegen sie raus. Und alle brauchen dieses Haus.
Ich darf nicht schreien, darf nicht laut lachen, darf nicht pfeifen.
Ich darf keinen Spaß haben.
Ich muss immer arbeiten. Müßiggang ist nicht erlaubt.
Ich darf mir nicht gefallen. (…)
Mädchen sind weniger wert als Buben. Weiblichkeit ist ein Fluch.
Ich muss alles so wie die anderen tun.
Nicht aber wie die Ausgestoßenen und Fremden auf der schlechten Seite des Hauses. Sie heißen Dahergelaufene, Spinnerte, Stinkende, Vechter, Invalide, Rauschige, Jugos. Und wegen des Verbots schleichen wir uns heimlich hin. Wollen wissen.
(…)
Die Erwachsenen wollen ihre Kinder schützen durch das Verbot, über die Grenze zu gehen. Aber ein Haus zu teilen, ist unmöglich. Was ich nicht sehen soll, prägt sich ein. Seitdem haben die Toten mich nicht mehr verlassen und sprechen mit mir. Als Odysseus die Unterwelt aufsucht, zählen für ihn nur die Helden. Über Töchter und Mütter der heroischen Männer weiß er nicht viel. Leerstellen hinter der bloßen Nennung ihrer Namen. Mehr ist nicht bekannt. Die Frauen sind Trägerkörper, Wirtsmenschen, Geburts- und Stillgeräte, die ausleiern, schadhaft sind und entsorgt werden. Ich schlüpfe in Odysseus‘ Haus, um ihre Geschichten zu entdecken. Sonst kann ich nichts ausrichten gegen das Verschwinden und die Angst davor. Ich fülle blinde Flecken.
Seite 183/191-192:
Ich folge dem Vater meiner Kinder, um nicht alleine mit ihnen zu sein. (…) Es ist kaum möglich, von sich als Mutter zu sprechen, da eine Mutter ohne Kinder nicht existiert. Sogar, wenn ich allein verreiste, ließ ich die Kinder in Gedanken nicht zurück. Eigentlich bin ich Familie, koste es, was es wolle, und koste es mich selbst.
(…)
Inzwischen bin ich sogar einverstanden, eine Spinne zu sein. Mein Machwerk ist immer wieder rasch zerstört und immer wieder rasch aufgebaut. Ich schwebe zwischen zwei Balken, ritsch ratsch ritsch ratsch laufe ich hin und her, bringe mein schwankendes Haus in Ordnung. Ich hänge an einem Faden, ich produziere den Faden, an dem ich hänge, aus meinem eigenen Körper. Beginne immer wieder von Neuem. Ich habe viele Arme, ich habe lange Beine, in meinem Körper wohnt ein Haus.
(…)
Was ich an Louise Bourgeois mag: (…) Ich mag, dass sie zur betrogenen Mutter hält. Von der englischen Geliebten ihres Vaters ist sie gleichzeitig abgestoßen und fasziniert. Flieht aus dem französischen in den englischsprachigen Raum. Traut sich, Künstlerin zu sein. Trotz Kindern. Sie ist meine echte Großmutter. Seit ich sie kenne, glaube ich daran, einen Ausweg zu finden aus dem Labyrinth.
© 2013 Secession Verlag, Zürich.