Leseprobe:
"Nur als erfahrene Schwimmerinnen konnten wir es schaffen. Vom Boot geschleudert, war jede auf sich allein gestellt. Wir durften nicht zu viel strampeln, mussten uns treiben lassen, die Kräfte einteilen", erzählte Salma.
"Aber wie?"
"Vor allem musst du an dein Überleben glauben. Nie darfst denken, dass keiner dich hört, dass keiner dich finden wird. Du musst in Gedanken durchhalten. Das stärkt deinen Körper. Irgendwann verlierst du das Gefühl für die Stunden, die vergehen. Und du musst achtgeben, nicht zu viel vom gefährlichen Wasser zu schlucken, das dir Lippen und Rachen aufbrennt. Die Wellen werfen dich, wohin sie wollen. Der Sturm brüllt dir in die Ohren. Das Krachen der Wogen macht dich taub. Vorerst klammerte ich mich an einem Stück Holz fest, das aber nicht dick genug war, um mich zu tragen. Allein die Einbildung gab mir Kraft. Bald wusste ich nicht mehr, ob Tag war oder Nacht, die Wolken hatten alles verdunkelt. Dann traf mich Licht. Ich schlug die Augen auf und sah einen Scheinwerfer. Motoren hörte ich keine. Ich ruderte, versuchte einen Arm hochzureißen, zu winken, zu schreien. Doch die nächste Welle saugte mich ein. Ich schluckte, tauchte wieder hoch. Ich spuckte, schloss die Augen. Das Licht schwand. Von da an nahm ich Abschied vom Leben. Mein Körper wurde schlaff und müde nach der großen Anstrengung. Meine Zähne klapperten. Ich konnte das Zittern nicht abstellen. Plötzlich aber leuchtete ein Stück orangefarbenes Plastik vor mir auf. Ich dachte erst an eine Boje, griff danach und fühlte eine Weste, gefüllt mit Schaumstoff. Die hatten sie mir vom Boot her mit einer Leine zugeworfen. Mit letzter Kraft zog ich sie über. Eine Helferin zerrte mich über Bord, wickelte mich ein, hielt mich warm, holte mich zurück."
"Ich bin so froh." O. umarmte sie, wollte sie kaum mehr loslassen. "Deine Arme sind dünner, Salma."
(S. 70-71)
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