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Melitta Breznik: Mutter. Chronik eines Abchieds.


Leseprobe:

Mutters Gesicht ist regungslos. Sie scheint nicht zu träumen, reagiert nicht, wenn ich aus Versehen eine Tür zu laut schließe. Ein Mensch kann ohne Nahrung einige Wochen überleben, er benötigt vor allem Wasser, und dieses versuche ich Mutter in kleinen Schlucken anzubieten. Mutters Körper scheint zu schrumpfen, seit ihrem Geburtstag habe ich kein Foto von ihr gemacht, will den Verfall nicht mit Bildern dokumentieren. Mit ihrem Einverständnis habe ich heute zusätzlich wieder eine kleine Dosis Schmerzmittel unter die Haut gespritzt.

In der Früh war ich etwas hektisch bei der Morgentoilette, die Erkältung schwächt mich noch immer und mir war unwohl, die Anstrengung zu viel. Mutter hätte lieber mehr Zeit gehabt und hat dann, zurück im Bett, zu mir gesagt, ich sei sicherlich eine gute Ärztin, aber als Pflegerin hätte ich nichtallzu viel Erfahrung. Diese Bemerkung gibt mir das Gefühl, nicht zu genügen. Morgen werde ich die Wäsche langsamer gestalten, sie ist ein Höhepunkt des Tages, an dem Mutter ihren Körper begutachtet, Veränderungen wahrnimmt, sich mit dem Fortschreiten ihres Verschwindens auseinandersetzt, die Beobachtungen benennt. Sie registriert die zunehmende Schlaffheit ihrer Oberarme, die Falten am Hals. Die Entspannung nach der Anstrengung der Körperpflege, wenn sie sich wieder in die Kissen zurücklehnen kann, wirkt auf mich wie die Zufriedenheit nach getaner Arbeit. Durch meine Eile habe ich ihr das heute versagt.

Noch immer »Nachtblau« von Nay, das Bild ist mir unangenehm, weswegen ich den Kalender ein paar Tage nicht beachtet habe. Die weiße Figur auf der linken Seite hat etwas von einem Geschwür. Das tiefe Rot aufder Gegenseite sieht aus wie die Andeutung einer Vulva. Ich habe mir den Kalender nicht ausgesucht, ich akzeptiere ihn als Gesellen, der mir grobe Orientierung für das Vergehen der Zeit bietet. Wäre ich diesem Bild in einem Museum begegnet, hätte ich meinen Rundgang fortgesetzt, ohne Notiz zu nehmen. Hier aber leben wir in einer Zwangsgemeinschaft. Ich wechsle das Blatt, freue mich über die mittelalterliche Darstellung des Heiligen Martin, der seinen Mantel mit dem Bettler teilt. Es erinnert mich an einen Aufenthalt mit Mutter und meiner Cousine in Assisi, wo wir an einem luftig warmen Frühlingstag die Kirche des Heiligen Franziskus besuchten.

Mutter sagt, sie hadere mit dem Sterben, sie habe sich das Ganze einfacher vorgestellt. Man könne nicht sterben, nur weil man es wolle, das habe sie inzwischen verstanden. Mutter war nie beim Sterben dabei, nicht bei ihrer eigenen Mutter, auch nicht bei ihrem Vater, der, zehn Jahre nachdem sie nach Österreich ausgewandert war, an einem Magendurchbruch verstarb. Ihr Schwiegervater hatte sich nachts, nach dem Besuch bei einer befreundeten Tischlerfamilie, wo er noch sein abendliches Bier getrunken hatte, mit seinem Lodenmantel ins Bett gelegtund war nicht mehr aufgewacht. Die Schwiegermutter fand man eines Morgens tot im Bett des Pflegeheimes. Ihr ältester Sohn starb mit achtzehn Jahren an einem Gehirntumor. Er kam nach einer Operation nichtmehr zu sich, und als Mutter, mit mir an der Hand, ihn im Krankenhaus besuchen wollte, war sein Bett leer.

(S. 83-85)

© 2020 Luchterhand, München

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