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Valerie Fritsch: Herzklappen von Johnson & Johnson.

Leseprobe 1:

Sie sahen sich selten, und so war es eine Lust, der die Entbehrung vorausging. Sie fasteten aneinander, hungerten über Wochen, bis sie sich wieder trafen, und blieben doch höflich und zurückhaltend, wenn sie sich endlich umarmten, um dem jeweils anderen nicht die Last der eigenen Bedürftigkeit aufzubürden. Sie gingen vorsichtig vor, als litten sie an einer menschlichen Baumkronenschüchternheit, als wären sie wie jene Bäume, die das Wachstum einstellen, sobald bei Wind ihre Kronen zusammenstoßen, um einander in keinem Fall zu behindern. Dass es auch ein Lieben war, bemerkte Anna an ihrem Körper, sie nahm das Herz plötzlich als einen Muskel wahr, spürte es größer und kleiner werden, spürte, wie es sich zusammenzog und ausdehnte, die Arbeit des Sehnens. Sie machte kein Aufhebens darum, und nach langer Zeit fiel es ihr erstmals wieder kein bisschen schwer, am Leben zu sein und zu bleiben. Wenn Friedrich kam, trafen sie sich am Stadtrand und fuhren hinaus aufs Land. Immer lenkte er einhändig, griff nach ihren im Schoß liegenden Fingern, und sie hielt seine Hand in beiden Händen, wie etwas, das man gewonnen hatte, bis sie ankamen. Es war, als brauchten sie nichts anderes als eine Landstraße, einen Kirchturm in der Ferne, einen Wald, abends eine Bar und ein Bett. Es war die furchterregende, berauschende Freiheit früher Tage. Sie gingen auf kleinen Wegen und waren erleichtert, wenn ihnen ein Fremder entgegenkam, an dem sie sehen konnten, dass sie fremd waren und weit weg von ihrem gewohnten Leben. Sie verloren sich zwischen den Bäumen und standen nebeneinander, als hätten auch sie Kronen, durch die der Wind fuhr. Sie standen einander gegenüber und dachten: Wir haben nichts, wir suchen alles. Die Sonne ihrer ersten gemeinsamen Zeit harnischte sie für alle späteren, dunklen Tage. Wie Alma die warmen Monate liebte. Am Ende eines jeden Sommers verzweifelte sie, wurde von einer wilden Sehnsucht erfasst nach seinen hellen Stunden und nach dem Geruch von heißem Stein, kindisch und rabiat. Wie das Wetter nahm sie die Jahreszeiten persönlich. Sie war eine fragile Agnostikerin, die jenen Gott, an den sie nicht glaubte, manches Mal vermisste, aber sommers fehlte er ihr nicht.

(S. 70-71)

 

Leseprobe 2:

In den Grenzgebieten fuchtelten die Georgier mit blankgeputzten Pistolen herum, hielten die Waffen in der einen, die Zigarette in der anderen Hand. Sie sahen eine Frau, die mit dem Küchenmesser in der Hand Motorrad fuhr, und einen Buben, der mit einem Fahrradschlauch Hulahoop tanzte. Auf den Straßen standen Männer mit Schrotgewehren vor den Fleischständen, um den bettelnden Hunden hinterherzuschießen, und Kinder, die an Blumen kauten und sich den Mund an den Schwefelköpfen der Zündhölzer bitter lutschten. In manchen Gärten lagen Schlangen neben den aufgerollten Gartenschläuchen, als wären sie dasselbe. Am Grenzübergang nach Aserbaidschan reichte Friedrich den Beamten ihre Reisedokumente, und mit einem Blick aufdie österreichischen Pässe sagte der eine halb streng, halb erfreut und mit kennerhaftem Nicken: Mozart. Der Weg zum Kaspischen Meer war karg und öd, nur manchmal standen junge Männer am Straßenrand und hielten lebendige weiße Kaninchen an den Ohren in die Höhe, zum Verkauf, als hätten sie die Tiere gerade aus einem Zylinder gezogen. Es gab riesige abgeblühte Distelfelder, und vereinzelt standen kleine Schlachthütten in der Gegend, mit Lämmern, die gehäutet und kopfüber aufgehängt von den niedrigen überdachten Verschlägen im Wind baumelten, in Leintücher und Bettlaken gehüllt, dass die Fliegen nicht auf ihnen saßen. Straßenhunde umlagerten die Buden und keuchten und seufzten im Sonnenlicht. Ein toter Schäferhund mit überstrecktem Kopf und ohne Unterleib lag auf der Straße. Menschen spazierten langsam die Autobahn entlang, manchmal gingen sie auch mitten auf der Fahrbahn oder lehnten rauchend an den Leitplanken neben den vorbeirasenden Wagen. Die Ölfelder zogen sandig und einsam an ihnen vorüber, und Emil sah in jeder Pumpe ein metallenes Tier, stählerne Vögel, mit an Seilen gezogenen Schnäbeln, die in die Erde hackten und mit jedem Stoß in den staubigen Boden pickten. Die schiefen Strommasten warfen nähnadeldünne Schatten auf die Erde. Im Süden wurde das Land plan und heiß, voller Schafherden, die sich über die Weite gossen, und alten Autos auf den Seiten der Fahrbahn, auf deren Kofferräumen Kisten voller Erdbeeren leuchteten. Sie kamen vorbei an Schlammvulkanen, grauen Methan-Kratern, in denen die Erde flüssig blubberte, in unregelmäßigen Abständen aus ihnen herausbrach und sich selbst ausspuckte. Hineinspringen wollte man in diese weichen Seen, um zu sehen, wie weit sie einen ins Innere hinabziehen würden. Emil stand vor ihnen, die Augen in die Tiefe gerichtet, wie er auch auf dem Zehnmeterturm stand.

(S. 162-163)

 

© 2020 Suhrkamp Verlag Berlin











 

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