Leseprobe :
Nun ist es also so weit, nun sind wir eingedrungen in die Mur-Mürz-Furche, nun gibt es kein Zurück. Ja, Sie haben recht, es hat etwas Erregendes, dieses langsam sich öffnende Tal. Seitentäler vor allem besitzt es von beträchtlicher Schönheit, bei Krieglach können Sie abbiegen nach Alpl, in die Waldheimat des Peter Rosegger, eine erstklassige Wandergegend, wie ja auch Peter Rosegger ein erstklassiger steirischer Dichter ist. Nein, nicht der Waldbauernbub, lassen Sie mich zufrieden mit dem Waldbauernbuben, Jakob der Letzte müssen Sie lesen, ein grundsolider Roman. Nein? Gefällt Ihnen nicht? Dann eben nicht, aber was immer Sie von Peter Rosegger halten mögen, es steht außer Zweifel, dass er niemals eine so niedrige Heimatliteratur verfasst hätte wie die unzähligen steirischen, vor allem in den Nachkriegsjahren gefeierten und geehrten Nazidichter, Brehm, Grogger, Mell usf.
Die ganze von der sogenannten kritischen Öffentlichkeit frühestens zu Beginn der achtziger Jahre überhaupt wahrgenommene Widerwärtigkeit der österreichischen Nachkriegspolitik hat sich ja an der österreichischen Nachkriegsliteraturpolitik immer schon ablesen lassen. Während man den bedeutenden Lyriker Buchebner elend in Wien hat zugrunde gehen lassen, sind die der Provinz huldigenden Schnulzenprosaisten und zwischenzeitlichen Nationalhymniker ebenfalls in Wien mit Großen Österreichischen Staatspreisen ausgezeichnet worden, weil sie die österreichische Kriegs- und Nachkriegswirklichkeit vertuscht haben, ertränkt in ihrem Kitsch, während Buchebner sie beschrieben hat, "über den stirnen weht schattend glücksseligkeitsdämmerung / auf alpenländischem wohlstandsbeton gedeihen / nur wiederkäuerchöre mit blutschaum im maul", so muss es gewesen sein. Aber die Steiermark hat sich ja mit Paula Grogger usf. nicht begnügt, die Steiermark hat vorher schon den abstoßendsten österreichischen Dichter überhaupt hervorgebracht, den Priesterdichter Kernstock, der nicht nur den Text der österreichischen Bundeshymne der Zwischenkriegszeit verfasst hat, sondern während des Ersten Weltkriegs auch die grässlichsten Hetzgedichte, die sich denken lassen. Kommen Sie näher, ich werde Ihnen eines vorsingen, noch näher, ich will nicht, dass es der ganze Speisewagen hört, womöglich beginnt jemand mitzusingen, Leoben ist nicht weit. Also: "Steirische Holzer", so dieser Kernstock, "holzt mir gut / Mit Büchsenkolben die Serbenbrut! / Steirische Jäger, trefft mir glatt / den russischen Zottelbä-" – Was? Sie können mich nicht verstehen? Die Steirer sind zu laut? Sie haben recht, die Steirer sind tatsächlich laut geworden. Worüber mögen sie sprechen? Ah, wie zu erwarten, es geht um Frauen! In einer abstoßenden Gegend wie der Mur-Mürz-Furche wird ja von den Männern ununterbrochen über die Frauen und von den Frauen ununterbrochen über die Männer gesprochen, weil man von all dem Abstoßenden, das einen immerzu umgibt, das jeweils andere Geschlecht noch für das am wenigsten Abstoßende hält. Aber dieses wölfische Heulen, ouuuu, ungewöhnlich, selbst für die Steiermark … Warten Sie, ich versuche zu übersetzen. Wenn ich recht verstehe, ist von einem Freund des Erzählers die Rede. Dessen Frau habe ein Kind erwartet, er habe sie zur Niederkunft begleitet und – … Moment … Der Erzähler spricht in höchster Erregung, ich kann nur sehr schwer folgen … Das Kind … was? … Drecksau von Weibsstück, ruft er jetzt plötzlich, mehrmals hintereinander, Drecksau von Weibsstück, pardon, aber das sind seine Worte, Drecksau von Weibsstück! Die anderen versuchen, ihn zu beruhigen, bitten ihn, weiter zu erzählen … Das Kind … Was? … Er gerät immer mehr in Rage … Dreimal so schwarz, ruft er! Dreimal so schwarz wie der alte Krainer, dreimal so schwarz! – Nein, natürlich verstehen Sie das nicht, das können Sie nicht verstehen, das ist nur für Steirer verständlich oder für Menschen wie mich, die seit Jahrzehnten mit der Mur-Mürz-Furche vertraut sind. Es ist furchtbar, man kann nur hoffen, dass es der Frau gelingt, rechtzeitig mit ihrem Kind ihren Mann und die Mur-Mürz-Furche zu verlassen, sonst muss man mit hoher Wahrscheinlichkeit in den nächsten Wochen in der Zeitung wieder von einem Doppelmord oder einem sogenannten erweiterten Selbstmord lesen, wie sie in dieser Gegend gang und gäbe sind.
Kommen Sie, wenden wir uns wieder der Landschaft zu. Es ist so schön hier. Nein, was Sie da sehen, ist nicht der Uhrturm auf dem Schlossberg in Graz, sondern der Uhrturm auf dem Schlossberg in Bruck an der Mur. Wenn Sie den Grazer Uhrturm sehen wollen, müssen Sie hier umsteigen und eine halbe Stunde die Mur abwärts nach Süden fahren, aber ich rate ab. Graz ist zwar eine schöne, auch, für österreichische Verhältnisse, eine lebendige Stadt, die Grazer Dichter bemühen sich seit Jahrzehnten redlich, die steirische Schundliteratur der Kriegs- und Nachkriegsjahre vergessen zu machen, dennoch: Man darf den Grazern nicht trauen. Man darf nie vergessen, wie sie sich aufgeführt haben am 23. Februar 1938, noch vor dem Anschluss, während der später sogenannten Volkserhebung, Fackelzüge, Naziflaggen allerorten, ein Rausch der Selbstaufgabe, sodass in dem restlichen Österreich allen, die noch für eine Eigenstaatlichkeit eintraten, klar werden musste: Nichts mehr zu machen. Aber der Weg war ja vorgezeichnet, die Katastrophe ist ja herbeigeführt worden, vor allem hier, in der Steiermark. Gerade im Raum Kapfenberg/Bruck hat es sich entschieden, im Industriegebiet, in den Eisenbahnerhochburgen. Hier ist 1927 der von den Sozialdemokraten ausgerufene Generalstreik niedergeschlagen worden, weniger von der ineffektiven Gendarmerie als von einer privaten paramilitärischen Schlägertruppe, dem Heimatschutz des Rechtsanwalts Pfrimer. Pfrimer, ja, mit kurzem i, nicht nur ein ungewöhnlich unsympathischer, sondern auch ein ungewöhnlich hässlicher Mensch. Leider habe ich kein Foto bei mir, und hätte ich eines, ich würde es Ihnen nicht zeigen. Womöglich sind Sie ja in den Speisewagen gegangen, um etwas, um etwas zu essen, und ich will Ihnen nicht den Appetit verderben. Jedenfalls hat dieser Pfrimer – was?
Ja. Ja, natürlich ist das lang vorbei, aber deswegen ist es nicht vorbei. Österreich, Sie wissen ja, wimmelt von Kindern der Toten.
(S. 90–93)
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