Leseprobe:
Nach fünf Tagen war Mittwoch, und alle Gefangenen dieses Stockwerks wurden hinunter in einen Hof geführt. Endlich waren die vier wieder vereint. Josef und Ludwig hatten noch keine Becher, dafür allerdings große Zeitungen zum Zudecken. Die fehlenden Häferl konnten sie während des Spaziergangs organisieren, denn Ludwig hatte in den letzten Tagen gegen Münzen auf Zuruf verlangte Melodien gepfiffen und Lieder gesungen. Das Geld hatte den Musiker durch viele Hände von Zellengitter zu Zellengitter erreicht.
Es gab noch andere Flüchtlinge, alle Berufsoffiziere wie Karl, trotzdem erklärten Viktor und Ludwig nachdrücklich, sie seien froh, die beiden nicht alleine gelassen zu haben. Zu sechst wären sie aufgebrochen, zu viert würden sie heimkehren, Freunde für ein ganzes Leben. Josef begann zu weinen. Er weinte überhaupt viel, verriet Ludwig, er fände sich langsam damit ab, dass seine Frau ihn nicht mehr zurücknehmen würde, das der andere seinen Platz fix eingenommen hätte. Verständlich wäre es nach so vielen Jahren der Absenz. Karl schaute weg, als hörte er nicht zu. Lass keinen Zweifel aufkommen, dachte er, sie hat dir geschworen, dass sie wartet.
Während Viktor die großformatige Sowjetzeitung von einem Stapel vor einem Mannschaftsklo entwendete, begann Karl auf den leeren Rändern der Zeitungsseiten wieder zu zeichnen, sein Allheilmittel gegen Traurigkeit und Zorn. Es gab so viele interessante Männergesichter rundherum, die meisten schrecklich schmal und hohlwangig, manche mit schlecht verheilten Wunden. Ihm war nicht nach Reden zumute. Im Geist sprach er mit Fanny, skizzierte dabei Männer, die ihre Füße vorsichtig einen vor den anderen setzten, die in der Julisonne saßen und redeten, die ihre Gesichter stumm gegen eine Wand gerichtet hatten und wie Statuen wirkten, die wie Ludwig und Viktor von einer Gruppe zur anderen wechselten, zappelnd wie Hunde, die endlich von der Leine gelassen worden waren. Karl stellte sich vor, Fanny wäre hier und der kleine Max würde in den Lichtflecken spielen.
(Seiten 205 f.)
©hanserblau Verlag, München