Leseprobe:
Viertes Gebot
Du sollst Vater und Mutter ehren, auf daß du lange lebst
im Land, das dir gibt der Herr, dein Gott
Mutterland, anziehendes, einladendes, honigreiches,
gar wohl mütterliches, ständig um die Ecke und
in Reichweite: plötzlich zieht es sich zurück,
unzugänglicher mit jedem Atemzug, und, hast du’s gesehen,
liegt es, wie auf Dauer, hinter den neun Bergen,
welche aus dem Fabelreich frech geradewegs
in die Gegenwart ragen, ungerufen – unwiderruflich,
jenseits aller passierbaren Gewässer. Der Zufallsblick
auf eine bewegliche Linie verheißt verhüllte Seligkeit,
erlösend sich enthüllend erst in der Vorahnung
der eigenen Totenmaske, von welcher Dampf aufsteigt.
Vaterland, unlieber Löwenanteil, bleiernes Erbe,
Anker im Trockenen, Senkblei, das sich verkeilt hat
im Spalt zwischen zwei Tagen. Mit unsichtbaren Lasten
und fast unverdaulicher Wegzehrung streckt
der atemlose Wanderer in der tiefsten Nacht
die Hand aus nach den morgigen Quellen, welche direkt vor ihm
hinter einer ungesehenen und undurchdringlichen Schranke
entspringen und sich, zugeführt von der Dämmerung,
ergießen über den Steilhang des Morgens. Vaterland: auf dem
gekrümmten Rücken schleppt es den erschöpften Vater,
der geführt wird von seinem unmündigen, kurzsichtigen Sohn.
(Seite 87)
© 2020 Suhrkamp Verlag, Berlin.