4. OKTOBER 1943
MINUS 550 TAGE, MONTAG
Pino fuhr die Via Fabio Severo zur neuen Universität hinauf. Nachdem die von Revoltella ursprünglich als Handelsschule im Stadtzentrum errichtete Hochschule bdd zu klein geworden war, hatte man die neue Universität bereits 1924 gegründet, fertig geworden war sie nach der Grundsteinlegung im Jahr 1938 aber erst vor Kurzem. Sie thronte mächtig oberhalb der Stadt in einer Kurve und wirkte wie eine schlafende Sphinx. Die beiden Flügel, die vom Mittelgang wegführten, waren die ausgestreckten Tatzen. Stufen wie bei einem Aztekentempel führten hinauf in das Heiligtum des Wissens. Pino drehte sich auf dem großen Vorplatz zu allen Seiten hin um. Mit der Universität waren auch viele neue Wohnhäuser in dem Viertel entstanden. Darunter lag die Stadt ausgebreitet wie eine Landkarte da und Pino versuchte, die erkennbaren Straßenzüge zu benennen. Und dahinter, wie ein ewiges Versprechen, das Meer mit einem die Konturen an der Grenze zwischen Wasser und Land verschlingenden Blau.
Man hatte es in Kürze geschafft, einige Kapazitäten an diese Hochschule zu holen, klingende Namen, die in ihrem Fach einen tadellosen Ruf genossen.
Er wanderte zu den Stufen und betrachtete die beiden an den Seitenflügeln angebrachten Reliefs, die wie an einem römischen Tempel Figuren und Szenen stilisierten. Darüber eine Säulenhalle, offen zu Stadt und Meer. Pino war aufgeregt, was ihn erwarten würde, und zugleich ein wenig vom schlechten Gewissen geplagt, als er eine Stufe nach der anderen emporstieg. Die meisten seines Jahrgangs waren beim Militär, nur er hatte es dank der Unterstützung seines Vaters geschafft, sich aus den gierigen Klauen des Staates herauszuwinden. Er durfte studieren, musste nicht nach Griechenland oder Russland. Wobei sich sein Vater leider darin getäuscht hatte, dass der Krieg bald ausgestanden wäre. Pino erinnerte sich daran, wie am 8. September alle aufgeregt vor dem Radioempfänger hingen und wie sie voll der Hoffnung zugehört hatten, als über Badoglios Friedensvertrag mit Eisenhower berichtet wurde, doch noch am selben Abend war es anders gekommen. Die Deutschen, die schon zuvor als Verbündete im Land gewesen waren, hatten bereits begonnen, Italien einzunehmen. Am 10. September hatten sie Rom besetzt und am 12. September Mussolini aus seiner Haft am Gran Sasso in den Abruzzen befreit. Und jetzt war alles noch schlimmer geworden.
Als er das Plateau erreicht hatte und dem Eingang zustrebte, waren diese Gedanken aber schnell wieder verdrängt. Jetzt war er wegen etwas anderem aufgeregt. Um siebzehn Uhr hatten sie sich auf der Piazza Oberdan verabredet.
Was für ein Tag und was für ein Zufall, dachte er, während er immer noch sein Herz heftig schlagen spürte. Hübsch war sie geworden, eine richtige Frau.
Pino betrat die Halle und musste sich erst orientieren, herausfinden, wo seine Vorlesungen stattfinden würden. Einige Studenten eilten an ihm vorbei. Wie in einem Hühnerstall herrschte hier ein geschäftiges Durcheinander. Er sah vor der Treppe eine Gruppe von jungen Männern stehen und fragte sie nach seinem Vorlesungssaal. Die Burschen, kaum älter als er selbst, schüttelten nur den Kopf. Er schaute auf seine Uhr. Er war knapp dran, wenn er sich nicht beeilte, würde er zu spät kommen.
»Frag vorne im Sekretariat, die können dir sicher weiterhelfen«, sagte einer der Burschen aus der Gruppe jetzt doch zu ihm.
Er kam dennoch zu spät. Der Professor hatte bereits seinen Vortrag begonnen, als Pino sich in den Saal schlich und behutsam die Tür schloss, damit er nicht störte. Doch dann streifte er auf dem Weg zu einem der freien Plätze an einem Tisch an, die Bücher fielen vom Tisch und natürlich unterbrach sich der Professor, da sie mit Krach auf dem Boden aufschlugen.
»Haben Sie sich verirrt oder haben Sie ein Geltungsproblem?«
Pino machte eine entschuldigende Geste, während er sich nun setzte, doch der Professor gab ihm zu verstehen, dass er stehen bleiben möge. Also stand Pino wieder auf. Er spürte, wie seine Wangen warm wurden, wie knapp zuvor, als er Laura im Bus wiedergetroffen hatte. Es entging ihm auch nicht, wie die anderen ihn betrachteten. Alle Augenpaare in dem Raum waren nun auf ihn gerichtet, so als wäre er der Inhalt dieser Vorlesung, dabei war er nur einer, der sich in dem Dschungel hier nicht zurechtgefunden hatte. Natürlich war die Verspätung Laura und dem Gespräch mit ihr geschuldet. Obwohl sie nur das Wichtigste, was ihnen die letzten Jahre widerfahren war, ausgetauscht hatten, hatten sie sich mindestens eine halbe Stunde unterhalten. Laura war es, die dann zur Eile gemahnt hatte. Und obgleich Pino das letzte Stück gerannt war, hatte er die Zeit nicht mehr gutmachen können.
»Wie heißen Sie?«, fragte der Professor, der einen blauen Anzug trug und das weiße Haar nach hinten gekämmt hatte. Die buschigen Augenbrauen waren auch bereits weiß und ei- gentlich wirkte er mit den Grübchen in den Wangen gar nicht so unfreundlich. Doch seine Stimme war tief und fest und jetzt auch grollend.
»Robusti«, sagte Pino und seine Stimme klang im Gegensatz zu jener von unten klein und zaghaft.
»Viel1eicht hätten sie sich in die Malerklasse einschreiben sollen.« Pino verstand nicht, doch der Professor lieferte keine weitere Erklärung. Er sagte: »Wenn also unser Tintoretto seinen Platz gefunden hat, können wir fortfahren.«
Die Studenten lachten. Pino setzte sich, Er hatte begriffen.
Die Vorträge waren interessant. Natürlich bot noch keiner der Professoren allzu detailreiches Wissen dar. Es handelte sich um eine Annäherung an den Stoff, doch für Pino bot sich ein erster Einblick in diese neue Welt. Während andernorts das Sterben unverändert fortschritt und die Völker fast überall Hunger litten und um ihre Toten weinten, saß er auf seinem Platz und reicherte sein Gehirn mit Wissen an. Das bislang Schlimmste, was seiner Familie in diesem Krieg widerfahren war, war die Beschlagnahme ihres Autos für militärische Zwecke gewesen.
Der Vormittag verflog im Nu, doch ab dem Nachmittag schienen die Stunden ihre Minuten verdoppelt zu haben. Pino war abgelenkt. Seine Gedanken waren bei Laura, er konnte es kaum erwarten, sie zu sehen. Er musste aufpassen, dass er nicht zu auffällig auf die Uhr starrte.
Am Ende des Tages rannte er aus dem Vorlesungssaal hinaus, weil er sofort den nächsten Bus ins Zentrum nehmen wollte. Er wunderte sich gar nicht, wieso es ihn derart stark zu dem Mädchen hinzog. Er akzeptierte es, denn es war Liebe, das hatte er sofort gewusst, als sie sein Lächeln heute Morgen erwidert hatte. Es konnte gar nichts anderes sein, dachte sich der Junge, der noch so wenig Ahnung vom Leben hatte.
Laura hatte jetzt dunkle Locken und volle Lippen. Wie gern hätte er die seinen dagegen gepresst. Und ihre klaren Augen schimmerten wie Bernstein.
Als er flott durch die Gänge zog, kam er wiederholt an einzelnen Gruppen von Studenten vorbei. Die meisten waren Männer, doch auch einige junge Frauen standen dabei. Er wechselte mit einem der Burschen einen längeren Blick. Er kannte ihn von der Schule. Er hieß Silvano Petacco und war meistens einer der Rädelsführer gewesen, wenn es darum gegangen war, etwas auszuhecken. Auch jetzt schien etwas im Busch, wie er an den geheimnisvollen Blicken, die sie untereinander austauschten, vermutete. Pino verlangsamte seine Schritte und schnappte einzelne Fetzen der Unterhaltung auf, doch je länger er verharrte, desto mehr verebbte das Gespräch, bis ihn die Truppe schweigend ansah. Er nickte ihnen zu und ging in Richtung Ausgang.
Pino hatte den weiten Vorplatz erreicht und blickte sich um.
Es war bereits zwanzig Minuten vor fünf und wenn nicht sofort ein Bus kam, würde er sich auch bei ihr verspäten.
Er war verwirrt. Erst das Wiedersehen mit Laura. Aus der nervenden Klette war eine wunderschöne Frau geworden. Und zugleich hatte er ein schlechtes Gewissen, dass er seinen Vater so hintergangen hatte. Er würde es ihm beichten, aber erst, wenn er ein paar gute Noten nach Hause gebracht hatte. Die nächsten Monate musste er vorsichtig sein. Vor allem durfte er sich nicht verplappern.
(S. 205 – 209)
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