Leseprobe:
Auf Lesbos dachte ich daran zurück. Die Falten waren derart gekonnt aus dem weißen Stein gehauen, dass das Zelt selbst aus der Nähe täuschend echt gewirkt hatte. Jetzt aber kam es mir weniger wie ein Mahnmal für Vertreibung vor, sondern schien vielmehr ein Beleg für die Unmöglichkeit, die Katastrophe zu durchdringen: Während wir Touristen den so präzis gearbeiteten Marmor bestaunten, vollzog sich die eigentliche Tragödie zwar nicht weit entfernt, aber dennoch im Verborgenen; sie geschah (und geschieht) Tag für Tag aufs Neue, ohne von unserer europäischen (also der medialen, der künstlerischen, letztlich der privaten, persönlichen) Seite in ganzer Tragweite verstanden zu werden.
(S. 14)
© 2020 Klever Verlag, Wien