LESEPROBE:
Und nicht nur für mich war Markus unsichtbar, die geistig behinderten Menschen waren grundsätzlich unsichtbar. Sie waren und sind in der Öffentlichkeit nicht oft gesehen und sie werden auch nicht gern gesehen, dachte ich. Und wenn doch mal einer auftaucht, kommt es einem wie ein Störbrummen vor, ein Tinnitus-Pfeifen, bei dem man froh ist, wenn es wieder verschwindet. Das Abweichen von dem von uns eingelernten Verhalten verstört uns, dachte ich. Das Abweichen von dem was sich gehört. Deshalb leben und sterben sie im Stummen. Menschen, die sich beruflich um sie kümmern, haben unsere Hochachtung, die aber eine scheinheilige Hochachtung ist. Vor allem wird diese Arbeit deshalb von uns geschätzt, weil wir sie nicht selbst machen wollen. Weil wir uns nicht vorstellen können, sie selbst zu machen, weil uns das Verhalten der geistig behinderten irritiert oder anekelt und wir nicht wissen, wie wir auf sie reagieren sollen. Es liegt eine nicht ausgesprochene Unerwünschtheit über ihrer Existenz. Wenn sie einmal doch ausgesprochen wird, dann anonymisiert, wie der Telefonterrorist seinerzeit: Früher hätte man euren Gestörten vergast, wie es im Protokoll meiner Schwiegermutter gestanden ist, so wie es sich eigentlich gehört.
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