Leseprobe: Silvia
Einmal fuhren sie im Auto. An der Ampel blickte Karl gedankenverloren aus dem Beifahrerfenster. Ilona hatte ihn beobachtet und schien zu glauben, dass er die Radfahrerin an der Ampel anstarrte.
»Und passt alles?«, fragte Ilona.
»Was meinst du?«, fragte Karl.
»Die Radfahrerin. Gefällt sie dir?«
Karl schwieg.
Ilona fuhr weiter. »Die hat wirklich einen super Arsch«, sagte Ilona, »hat deine Freundin, die du nach der Arbeit triffst, auch so einen super Arsch? Wenn das so weitergeht, lasse ich mich scheiden.«
Früher hatte Ilona zu Mittag mit ihren Kolleginnen gegessen und Karl hatte in dieser Zeit nicht anrufen dürfen. Nun aber saß sie zu Hause und schrieb Karl SMS. Eine davon lautete: Du bist gesehen worden. Letzte Woche. In der Burggasse. Hand in Hand mit einer blonden Frau. Es reicht.
Jetzt gab es also schon Spitzel, die für sie arbeiteten. Karl überlegte, wann er in der Burggasse gewesen sein könnte. Er überquerte die Burggasse manchmal, aber er konnte sich nicht erinnern, in letzter Zeit dort in einem Lokal oder Geschäft gewesen zu sein oder die Burggasse auch nur entlanggegangen zu sein. Er antwortete: Was wird das jetzt? Wir reden am Abend.
Ilona wollte sich in einem Lokal treffen. Karl war froh, dass sie immerhin wieder außer Haus ging. Sie trafen sich in einem Kaffeehaus. Ilona setzte sich und legte sofort los: »Also, wie heißt sie?« Kein Kellner weit und breit. Karl schob das Set mit Salzstreuer, Pfefferstreuer und Zahnstochern von einer Kante des Tisches zur anderen. »Silvia«, sagte er.
»Silvia«, sagte Ilona schon ein wenig freundlicher. »Und hat sie vielleicht auch einen Nachnamen?«
Karl spielte weiter mit dem Salzstreuer. Plötzlich nahm Ilona ihm den Salzstreuer weg.
»Hör auf! Das nervt«, sagte sie.
Karl wusste, das brachte Unglück. Er hatte es in einer Zeitschrift gelesen: Die Hindus glauben, es bringt Unglück, wenn eine Person einer anderen Person Salz von Hand zu Hand übergibt. Karl blickte aus dem Fenster. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite las er auf einem Schild Optik Böhmert.
»Also«, sagte Ilona, »willst du mir jetzt ihren Nachnamen sagen?«
»Böhmert«, sagte Karl, »Silvia Böhmert.«
(S. 11 – 16)
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