Heute, am 10. Juli 1967, ist mein letzter Tag im Kinderdorf. Ich fahre zu meiner richtigen Mutter nach Salzburg. Ich muß mich noch verabschieden. Weiß nur nicht, wie das geht.
Vielleicht kannst du zum Abschied in die anderen Häuser gehen, hat Mutti gesagt. Sie hat vielleicht gesagt. Ich habe ihre Empfehlung ignoriert.
Ihre Sätze haben an Bestimmtheit verloren. Alle beginnen heute mit vielleicht. Vielleicht holen sie dich in Salzburg ab. Vielleicht schreibst du uns, wie es dir ergeht. Vielleicht besuchen wir dich bald.
Eine feierliche Atmosphäre zieht durchs Haus, es ist beinahe so, wie wenn Gerda Geburtstag hat. Heute liegen ein Stofftuch am Tisch und färbige Servietten.
Ich habe schon mehrere Abschiede erlebt. Wie der Kerscher Edi, unser Ältester, aus dem Kinderdorf entlassen wurde. Das war etwas Besonderes, weil er der erste war, der die Familie verlassen hat. Zum Edi haben wir aufgeschaut, die Schwestern haben geweint, wie er gegangen ist. Es war fast, als ob jemand gestorben wäre.
Ist nicht so schlimm, ich werde euch besuchen, hat der Edi gesagt. Gekommen ist er dann ganz selten. Zum Muttertag ist er aufgekreutz in einem fast neuen NSU Prinz, den er angeblich von seinem ersten ersparten Geld bezahlt hat, was ihm keiner glaubte, und einem riesigen Blumenstrauß im Arm. Aus schlechtem Gewissen. Man hat es ihm angesehen.
Später sind Rudi und Ewald, zwei Jahre später Roswitha, wieder zwei Jahre später Margit aus dem Haus gegangen. Am schwersten fiel mir der Abschied von Margit. Beim Essen habe ich einen dicken Knödel im Hals gespürt und keinen Bissen mehr hinuntergebracht. Du sitzt da, eigentlich ist ein Tag wie jeder andere auch, aber plötzlich fällt dir alles auf einmal ein. Was gewesen ist. Wie lange du mit der Margit ein Gespann gebildet hast, wie ihr zusammen vom Pinzgau ins Kinderdorf gekommen seid, was ihr die Jahre hindurch gemeinsam erlebt habt. Wir müssen zusammenhalten, hat die Margit oft zu mir gesagt, es ist unsere Lebensparole gewesen, sie hat sie mir zugeflüstert, wenn in der Küche die Fetzen geflogen sind. Das fällt mir im unpassendsten Augenblick beim Essen ein und würgt mich im Hals. Ich mache Mutti nicht die Freude und beginne zu heulen, ich muß aufs Klo gehen, habe ich gesagt und mir im Waschraum vor dem Spiegel die Augen gewischt, damit man mir die Tränen nicht anmerkt.
Der Abschied von Edi war besonders aufregend, weil wir nicht gewußt haben, welches Ritual sich Mutti einfallen lassen wird, bei den anderen war dann schon klar, was kommt: Mutti hat den Abschied auf das Mittagessen konzentriert, eine letzte gemeinsame Mahlzeit. Nachher hat es immer Kaffee für die Großen, Kakao für die Kleinen gegeben, was sonst nur am Sonntagnachmittag üblich war. Dann hat derjenige, der entlassen wurde, seine Sachen von oben geholt und sich vor dem Haus von allen, die nicht mit zum Bahnhof gefahren sind, verabschiedet.
Ich habe mich gefragt, warum diese Zeremonie unbedingt vor dem Haus stattfinden muß, und bin zu dem Ergebnis gekommen, daß dieser letzte Akt des Abschiednehmens von Mutti bewußt dorthin verlegt wurde, an einen Platz, der von allen Kinderdorfhäusern bestens eingesehen werden kann. Das Abschiednehmen von einem Kind aus dem zweiten Haus ist somit immer öffentlich und daher eine Demonstration für das ganze Dorf gewesen: Schaut her, die Schwaigerfamilie ist eine besondere Familie, die Schwaigermutter hält ihre Sippe besonders gut zusammen. (S. 9ff.)
(c) 1998, Styria, Graz, Wien, Köln.
Publikation mit freundlicher Genehmigung des Verlags.