Ich bin die in der Mitte. Die mit dem Makel. Mein feuerrotes Mal auf der Wange zieht seit jeher alle Blicke auf sich. Das kann man wegmachen lassen, sagen die Leute, die es gut mit mir meinen. Dabei betrachten sie mich auf das neugierigste und ich halte nur mit Mühe den Kopf hoch. So war es früher. Jetzt ist es anders. Jetzt ist das feuerrote Mal auf meiner Wange gänzlich unwichtig geworden. Jetzt muß ich von morgens bis abends an meine ältere Schwester denken. Daran, daß sie lange gekränkelt hat und ich den Kopf in den Sand gesteckt habe. Dann, als die Krankheit ausgebrochen ist, habe ich meine ältere Schwester sogleich ins Krankenhaus gebracht. Nur dort kann dir geholfen werden, hab ich gesagt. Sie war nicht weiter verwundert darüber, sie hat gewußt, daß mit mir nicht zu rechnen ist. Hätte ich sie zu Hause behalten und selber gepflegt, könnte sie noch leben, sage ich mir heute. Ich bin es gewesen, die ihr Sterben noch beschleunigt hat, daran ist nicht zu rütteln. Du mußt dich auf andere Gedanken bringen, haben die Leute, die es gut mit mir meinen, gesagt und ich habe es gehorsam mit Ablenkung versucht. Aber das ist gänzlich nutzlos gewesen und eines Tages habe ich den Einfall gehabt, alle Spiegel aus der Wohnung zu verbannen. Um die Proteste der jüngeren Schwester habe ich mich nicht gekümmert. Wieso tust du das, hat sie gefragt. Ich möchte mich hin und wieder in den Spiegel schauen, hat sie gesagt. Ich nicht, hab ich gesagt.
© 2003, Jung und Jung, Salzburg, Wien.
Publikation mit freundlicher Genehmigung des Verlags.