Einmal fragte einer der Helfer: "Was ist eigentlich ein wichtiges Buch?" Er fand lange keine Antwort. Diese Frage stürzte Bucevich in arge Verlegenheit, obwohl er doch sonst so rasch zugriff, wenn es sich um ein wichtiges Buch handelte. Natürlich konnte er angeben, was ein teures, seltenes, wichtiges Buch war, "Hedda Gabler" zum Beispiel oder "In Nacht und Eis", wichtig für einen bestimmten Zeitabschnitt, wichtig für eine Literaturgattung, oder für die Wissenschaft, für den Handwerker, Techniker, Arzt, Entdecker, aber was ist wirklich ein diesem totalen und doch naiven Sinn wichtiges Buch? In seinem Geist zogen die Naturwissenschafter, die Philosophen, die Religionsgründer, die Ketzer, die Köche, die Pädagogen und viele, viele mehr vorüber, die Schriftsteller, die Poeten, die Stückeschreiber, die Theoretiker, die Analysten, Essayisten, Enzyklopädisten...was ist ein wirklich wichtiges Buch? Bis er vergaß, auf die Bücher zu achten, über die er den Spagat band, auch jene vergaß, die die anderen aufeinander gestapelt hatten, so verstörte ihn die Frage. Er schlichtete geistesabwesend weiter, bis sein Blick zufällig auf ein dickleibiges, zerfleddertes und abgegriffenes Buch fiel, unansehlich, der Buchblock gebrochen, die Seiten angekritzelt. Er lächelte, hielt das Buch mit beiden Händen, wiegte es darin und sagte schließlich: "Das ist ein wichtiges Buch, vielleicht eines der wichtigsten." Es war ein Wörterbuch, wie es Tausende und Abertausende gibt, aber alle anderen Bücher sind ohne ein Wörterbuch nicht vorstellbar. Darüber lachten die anderen Sortierer, und insgeheim deuteten sie ihm den Vogel. Einer von ihnen warf Gatterbauerzwei ein Buch zu, mit dem ironischen Kommentar: "He, Neger, das ist ein wichtiges Buch."
Er blättere darin, und je öfter er sich die Bilder ansah, desto interessanter wurde es für ihn. Die Zeichnungen zeigten den genauen Verlauf, wei ein Freistilringer seine Griffe anbringt, um seinen Gegener zu Fall zu bringen. Er fing an, diese Diagramme täglich zu betrachten, er versuchte ihre Logik zu verstehen, ahmte die skizzierten Stellungen und den Ablauf der Griffe nach, den vorgeneigten Oberkörper, die leicht eingeknickten Beine. (...) Als er das nach einer Beleidigung ausprobierte, fiel der Mann so schnell zu Boden, dass alle erstaunt waren, wie schnell der Kampf vorbei war. Gatterbauerzwei war überzeugt, ein wichtiges Buch bekommen zu haben. Mehr und mehr vertiefte er sich in die Diagramme und versuchte zu verstehen, wie ein Stürzer, Ausheber, Wendegriff, Beinsteller, Wälzer, Fall- und Hüftschwung angebracht werden musste. Sollte das Buch sein Leben verändern? Sollte es ihm helfen, die Umklammerung, in die er geraten war, aufzuheben?
(S. 198 ff)
© 2006, Residenz Verlag, St. Pölten-Salzburg.