Seine Mutter griff nach der Tür des Kreissaals und lehnte sie gegen die Wand. „Wir müssen den Tischler holen“, meinte sie und strich über den Rahmen, der unter Konrads Tritten zersplittert war. Konrad sah ihr dabei zu, und als sie näher an ihn herantrat, verbarg er den Rücken vor ihr. „Das ist mein Tagebuch“, sagte sie auf einmal. Sie öffnete die Dachluke. Sonnenlicht fiel schräg ins Zimmer.
„Was ist das … ein totales Tagebuch?“
Sie lachte. „Ein Versuch, ein Leben aufzuschreiben.“
„Alles?“
„Ein Leben hat auch Lücken“, antwortete sie und musterte Konrad abschätzig.
„Aber eine Ordnung hat keine Lücken.“
Konrads Mutter sah auf. Er glaubte, sie ertappt zu haben. Sie hielt sich am Türrahmen fest und strich über die Nase. „Eine Ordnung ist aus sich heraus ein Ganzes. Eine Ordnung hat einen Anfang und ein Ende. Eine Ordnung hat Teile, aber was zwischen den Teilen ist, bleibt mir überlassen.“
„Und was ist zwischen den Teilen?“
„Zwischen den Teilen ist die Lücke, das bin ich, die aufschreibt. Die Lücke ist die Ordnung der Ordnung.“
Plötzlich läutete es an der Tür. „Der Installateur.“ Seine Mutter verließ den Kreissaal. Konrad blieb noch eine Weile sitzen. Aus der Küche hörte er Werkzeugkrach. Er blickte aus der Dachluke. Einige Wolken hatten sich vor die Sonne geschoben.
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