Noch ehe ich in die Schule kam, konnte ich meine Eltern bereits dazu bewegen, mich als jüngste Teilnehmerin in einen Balletkurs für Kinder aufnehmen zu lassen, ich lernte tanzen früher als lesen und schreiben. Alles begann so: Als ich mit vier Jahren in ein kinderübliches Weihnachtsballett geführt worden war, hätte ich das Opernhaus danach mit hochroten Wangen und glasigen Augen verlassen, erzählte man mir. Alle dachten, ich würde fiebern, sei krank geworden. Aber es war einzig der fiebrige, glühende Wunsch, Tänzerin zu werden, der mich ab diesem Balletterlebnis erfüllte. Unaufhaltsam sei in folgender Zeit aus einem netten, kleinen Mädchen eine unausstehliche Göre geworden, ich hätte die Eltern auf eine für mein zartes Alter erstaunlich perfide Weise zu drangsalieren verstanden. Das ging so lange, bis ich eines Tages von meiner Mutter mit einem Seufzer, der sich aus Erschöpfung und Erleichterung zusammensetzte, in Madame Minuits Kindertanzschule abgegeben wurde. Ja, sie gab mich ab wie ein zu schwer gewordenes Paket und lief rasch wieder davon. Mit winzigen Ballettschühchen an den Füßen und in einem weißen, rüschenverzierten Trikot stand ich vor der großgewachsenen, schwarzgekleideten Madame Minuit, die aus ebenfalls kohlschwarzen Augen prüfend auf mich herabsah. "Bist du nicht doch noch zu klein?" fragte sie. Es war eine Frage, die sie sich wohl selber stellte, aber ich hätte prompt geantwortet: "Nein, gar nicht. Auch Kleine wollen tanzen." Jedenfalls wurde dies meiner Mutter, als sie mich abholte, lächelnd berichtet, und auch noch hinzugefügt, ich hätte mich als überaus rasch von Begriff und musikalisch-rhythmisch begabt erwiesen, beides erstaunlich für mein Alter. Stolzgeschwellt verließ die Mutter mit mir die Tanzschule. Der Bann war gebrochen.
(S. 41-42)
© 2010 Residenz Verlag, St. Pölten-Salzburg