Leseprobe:
Die Wirklichkeit auf unserem Planeten ist manchmal kaum zumutbar. An bestimmten Orten ist sie noch härter hinzunehmen als an anderen. Weit unten auf der Erträglichkeitsskala liegt Delhi.
Die Hauptstadt Indiens ist ein Spießrutenlauf durch sämtliche Unannehmlichkeiten, die ein Mensch sich unter seinesgleichen vorstellen kann. Frösche habe ich in Alt-Delhi nicht quaken gehört, auch die Kühe, die hin und wieder den Verkehr zum Erliegen bringen, tragen keine Glocken. Doch alles andere Vor- und Unvorstellbare drängt sich dicht an dicht in dieser Stadt. Ich weißt nicht, wie viele Tote ich in den Straßen und Gassen Delhis gesehen habe. Zwischen Müll und Urat, auf jedem Vorsprung, jedem ausgetrockneten und von Erde und Schutt bedeckten Rasenrest, in Pfützen aus Benzin, überall liegen Hunde und Menschen herum, die vielleicht schon tot, vielleicht aber noch lebendig sind.
Der knochige Mann, der fast nackt im Rinnsal unter der Vorderachse eines verrosteten, vielleicht seit Monaten an jenem Straßenrand abgestellten Lastwagens eingeschlafen war. Schlief er hier schon wochenlang und würde nie mehr wieder erwachen? Alles in Delhi ist grenzenlos, alles im Übergang. Die Ausmaße der Stadt, die Einwohnerzahl, nichts ist klar manifestiert. Das Lebendige geht fließend ins Sterbende über. Und über das Gestorbene hinweg drängt sich bereits da neue Leben, und dieses Neue trägt wiederum von vornherein den Fluch des Alten in sich. Alles bricht in einem fort in sich zusammen und stellt sich neu wieder auf. Was schief ist muss fallen, und alles ist schief an diesem Ort. Es gibt keine zweite Stadt auf der Erde, die täglich so unabdinglich zu Staub zerfällt und zugleich so schmetternd von den Toten aufersteht wie Delhi. Es ist beides zugleich, düsterste Zukunftsvision und tiefstes Mittelalter, ein Ort, der die Dimensionen von Raum und Zeit sprengt. Delhi ist eine Warnung an die Menschheit. So weit kann es kommen. Das Wasser aus dem Wasserhahn ist warm und rostig-braun. Ich will so wenig wie möglich damit in Berührung kommen. Das Atmen hinterlässt einen bitteren, metallischen Geschmack im Rachen. Und dennoch ist Delhi das pralle Leben. Europäische Städte wirken vergleichsweise ausgestorben. Ich kann keinen Schritt auf der Straße tun, ohne von irgendjemandem bedrängt zu werden.
Nur 230 Kilometer nördlich von Delhi schrieb John Lennon seinen Song für Prudence Farrow. Komm heraus, versteck dich nicht, it’s beautiful!
(S. 40f)
© 2019 Milena Verlag, Wien