Fiktionen als sinnliche Erfahrungen, Paderborn: Brill/Wilhelm Fink, 2021. 239 Seiten u. 11. Abb., EUR (A) 55,60; ISBN: 978-3-7705-6605-1
(1) Goethes Mirabellenschachtel: Goethe erhielt von Marianne von Willemer eine Schachtel voller Mirabellen und schickte ihr die leere Schachtel wieder zurück mit einem Gedicht auf einem Zettel, der innen auf dem Schachtelboden aufgeklebt war (die geschlossene Schachtel kann heute im Museum, hinter Glas ausgestellt, bewundert werden).
(2) Hugos Les Travailleurs de la mer: Victor Hugo ließ das auf edlem Papier geschriebene Manuskript der Travailleurs zusammen mit Fragmenten und Zeichnungen aus seiner Hand, bestehend aus 433 Blättern, in Pergament binden und machte daraus somit ein „ästhetisch ausgestaltetes Buch-Objekt mit eigenem künstlerischem Wert“ (S. 96).
(3) Doug Dorsts und J. J. Abrams' S.: Dorst und Abrams bringen 2013 unter dem „rätselhaft anmutenden Titel“ (S. 118) S. ein Buch-Objekt auf dem Markt, das in einem Schuber Folgendes enthält: ein Buch mit dem Titel Ship of Theseus des fiktiven Autors V. M. Straka erschienen im ebenso fiktiven Verlag Winged Shoe Press sowie zwischen den Seiten zu findende „Postkarten, Kopien, Zeitungssauschnitte, eine Serviette, Briefe, Fotografien u.v.a.m.“ (ebd.). Die Randspalten des Buches sind mit handschriftlichen Notizen gefüllt.
(4) E.T.A. Hoffmanns Des Vetters Eckfenster und der Kunz'sche Riss: Hoffmann zeichnet mit Feder eine Ansicht des Berliner Gendarmenmarkts, die er an seinen Verleger Carl-Friedrich Kunz schickt und die als Kunz'scher Riss bekannt ist. Diese Zeichnung steht in einem engen Zusammenhang mit Hoffmanns Erzählung Des Vetters Eckfenster.
(5) Die Buddenbrooks – Ein Jahrhundertroman: In der Dauerausstellung in Lübeck, die diesen Titel trägt, wurden zwei Räume des fiktiven Buddenbrook-Hauses in der Ausstellung ganz real (nach)gebaut, die nach den Beschreibungen im Roman gestaltet wurden – der Speisesaal und das so genannte Landschaftszimmer – und die man als Besucher*in der Ausstellung betreten kann.
(6) Hugos Hauteville House: Victor Hugos Stadthaus in Saint Peter-Port auf Guernsey, in dem der Autor von 1856 bis 1870 lebte, wurde von ihm aufwändig gestaltet. Es kann heute als Teil des Victor-Hugo-Museums besucht werden. ‘
(7) SIGNA: Das Künstlerkollektiv SIGNA bespielt mit interaktiven ,Theaterstücken‘ „leerstehende Gebäude, die von den Schauspielern bereits Wochen vor dem Aufführungstermin bezogen und eingerichtet werden“ (S. 187). Die ,Zuschauer*innen‘ können während der ,Aufführungen‘ durch die Räume gehen und werden dort durch Interaktion mit den Künstler*innen, dem Gebäude und den Gegenständen Teil des Stücks.
(8) What Remains of Edith Finch: Das Studio Giant Sparrow entwickelte 2017 einen „Walking Simulator“ (S. 194), ein interaktives Adventure-Computerspiel, in dem man in die ,Haut‘ einer gewissen Edith Finch schlüpft und das Anwesen ihrer Familie erkunden kann.
9) Amnesia: The Dark Descent: In diesem Computerspiel wacht man als ein Mann namens Daniel auf, der sich nicht mehr an seine Vergangenheit erinnern kann. Anhand von bestimmten digitalen Objekten im Spiel, darunter handgeschriebene Tagebuchseiten, wird man durch das Spiel auf der Suche nach einer Figur namens Alexander geleitet.
Auf den ersten Blick scheinen diese neun Beispiele, die die Vergleichende Literaturwissenschaftlerin Jasmin Pfeiffer in ihrer Dissertation Materialitäten, Objekte, Räume untersucht, nicht viel gemeinsam zu haben. Die Autorin kann allerdings überzeugend darlegen, dass man solche unterschiedlichen Werke durchaus mit einem konzisen theoretischen Konzept betrachten kann, „welches Fiktionen nicht als mentale, ausschließlich aus Repräsentationen und Zeichen bestehende Konstrukte betrachtet, sondern es ermöglicht, material vorliegende Objekte zu berücksichtigen und so der sinnlichen Dimension der Fiktionsrezeption Rechnung zu tragen“, wie es im Fazit auf S. 209 heißt. In anderen Worten: Pfeiffer stellt die Frage, wie man als Rezipient*in materielle Objekte (Gegenstände, Räume etc.), auch wenn diese in digitaler Form Teil einer virtuellen Welt sein mögen, mit Bedeutung füllt und diese zu Teilen einer Welt macht, die trotz ihrer sinnlich wahrnehmbaren Qualitäten (die auch haptische oder olfaktorische Wahrnehmungen umfassen kann) als fiktional erlebt werden. Es geht also darum, „physisch vorliegende, sinnlich erfahrbare Objekte als Bestandteile der Fiktion zu erfassen“ (S. 6).
Man könnte meinen, dass die Autorin mit der in den Kulturwissenschaften recht bekannten Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) von Bruno Latour, der materielle Objekte als ,handlungsfähig‘ beschreibt, oder anderen im weitesten Sinne praxeologischen oder empirischen Zugängen arbeitet. (Mit der ANT hätte man vielleicht einen gangbaren Weg durch den terminologischen und phänomenologischen Dschungel bahnen können, der einen im Feld des Materiellen – das Dinge, Objekte, Gegenstände, Artefakte, Dreidimensionalität, Sinneswahrnehmungen, physische Präsenz, Vergegenwärtigung, Unvermittelheit, Reales, Räumliches, Situiertes, Ausgedehntes und und und umfasst – erwartet und der in Kapitel 2 nicht wirklich gelichtet wird; wobei dieses Kapitel – ein Überblick über Definitionsversuche von Dingen, Objekten und Materialitäten – für das Verständnis der Theorie und der vorgestellten Beispiele nicht zwingend nötig ist.)
Pfeiffer geht allerdings den Weg einer Fiktionalitätstheorie, die methodisch sicherlich validere Ergebnisse erlaubt – zu Recht warnt die Autorin auch davor, als Literaturwissenschaftler*in das Feld der (Wahrnehmungs-)Psychologie oder der Biologie zu betreten (S. 30) –, die aber an der einen oder anderen Stelle Gefahr läuft, die spezifischen und jeweils völlig unterschiedlichen Kontexte der genannten Werke zu wenig in die Analyse mit einzubeziehen. Die ganz unterschiedlichen institutionellen Settings der Werke werden zwar durchaus beschrieben, aber die Tatsache, dass es ja letztlich diese Settings sind, die Bedeutung konstruieren und generieren – und gerade eben nicht (oder zumindest nicht in erster Linie) die subjektive Wahrnehmung der Rezipient*innen, wie Jasmin Pfeiffer öfters feststellt –, wird in die Theorie nicht wirklich einbezogen. (Klar, ohne subjektive, oder vielmehr subjektbezogene, Wahrnehmung gibt es keine Rezeption, aber diese subjektbezogene Wahrnehmung ist doch nicht subjektiv im landläufigen Sinne.) Der Versuch der Theoretisierung des Rezeptionskontextes hätte Pfeiffer die Wahl zwischen zwei ,Übeln‘ erspart: Die Skylla hat die Autorin zwar erfolgreich umschifft mit dem Aufzeigen, „dass Fiktionalität keine invariante Werkeigenschaft darstellt“, die Gegenposition, dass diese „eine Zuschreibung des Rezipienten“ (S. 66) sei, aber nicht wirklich als Charybdis erkannt. (So ist zu bezweifeln, ob „[d]erselbe Film beispielsweise […] von einem Zuschauer als fiktional und von einem anderen als faktual bewertet werden [kann]“ (S. 68). In gängigen Rezeptionszusammenhängen werden wohl alle Zuschauer*innen eine Verfilmung von Emma Bovary als fiktional wahrnehmen.)
Die subjektive Seite der Rezeption ist in der Tat nicht operationalisierbar, wie auch Pfeiffer zu Recht meint. Die folgerichtige Konsequenz aus Pfeiffers Position, „dass auch die nachfolgenden Analysen keine allgemeingültige Geltung beanspruchen“ (S. 30), einfach hinzunehmen, ist wissenschaftlich aber letztlich unbefriedigend und hätte durch die Analyse der Institution Kunst (in seiner ,Ausprägung‘ als Museum, als ästhetisch aufwendig gestaltetes Buch-Objekt, als Devotionalie etc.) und seiner Tendenz, alles innerhalb ihrer Grenzen Befindliche zu ,fiktionalisieren‘, abgefedert werden können. Noch einmal anders formuliert: Es ist nicht die Erfahrung der Rezipient*innen, die die Grenze zwischen Fiktion und Realität zieht und es ist vielleicht nicht einmal alleine diese Grenze alleine, die in den genannten Werken zur Disposition steht und ständig überschritten wird. Vielmehr ist es ein institutionalisiertes Kunst- und Literatursystem und dessen strikte Abgrenzung zum Alltagshandeln, die entscheidend sind. Es ist ja im Falle von Goethes Mirabellenschachtel gerade die Grenze zwischen musealisierter Kunst und Alltag, die die Schachtel der (haptischen) Wahrnehmung der Rezipient*innen entzieht. Im Prinzip hat Pfeiffer natürlich recht, wenn sie schreibt: Die „Mirabellenschachtel ist eine Mirabellenschachtel und keine Repräsentation einer Mirabellenschachtel – wenn der Rezipient mit dem Artefakt interagiert, so stellt er sich nicht nur vor, eine Mirabellenschachtel in den Händen zu halten, sondern dies ist tatsächlich der Fall.“ (S. 48) Nur: Die Mirabellenschachtel steht hinter einer Glasscheibe und kann und darf nicht berührt, geschweige denn geöffnet werden; von einer tatsächlichen haptischen Wahrnehmung kann also nicht die Rede sein.
Im explizit gemachten Anspruch agiert Pfeiffer durchaus vorsichtig, wenn auch manchmal allzu zurückhaltend (was auch Formulierungen wie „diese Studie möchte“ oder „stünde zu vermuten“ zeigen). Zum Glück, möchte man sagen, macht die Praxis, sprich: die detailreichen Analysen, diese Bescheidenheit wett. Auch wenn die Analysen manches etwas zu schnell über den kategorialen Leisten von „vier fiktionsfördernde[n] Faktoren […], nämlich die Existenz einer (permeablen) Demarkationslinie zur Wirklichkeit, Narrativität, Mehrdeutigkeit sowie Selbstreflexivität“ (S. 210) scheren, so machen sie doch überzeugend deutlich, wie vielfältig durch die Werke und in ihnen materielle Objekte, Gegenstände und Räume fiktionalisiert werden. Was letztlich aber offen bleibt ist die Frage, was die analysierten Werke nun wirklich eint, sind sie doch so unterschiedlich, dass sie nur schwer unter dem Dach eines theoretischen Konzepts subsumiert werden können. (Das wird auch nicht gemildert durch die Tatsache, dass die Beispiele 7, 8 und 9 in Form von zwei Exkursen präsentiert werden.) Pfeiffer hat zwar nicht vor, eine Typologie zu erstellen, wie Sie auf Seite 80 festhält, und ein System schon gar nicht, aber zu schreiben, dass der „Zweck der Kategorien“ darin liege, „die gewählten Beispiele zu sortieren“ (ebd.) befriedigt nicht ganz, zumal auf der einen Seite unklar bleibt, was mit „sortieren“ gemeint ist, auf der anderen Seite die Auswahl der Beispiele nicht ausreichend plausibilisiert wird.
Jasmin Pfeiffers Ausführungen erfordern kundige Leser*innen, Terminologie wie Theorie sind ebenso detailliert wie präzise ausgearbeitet und präsentiert. Die Beispiele treten trotz ihrer Disparatheit plastisch hervor und werden von der Autorin in einer Weise dargestellt, dass man Lust bekommt, sich weiter mit diesen zu beschäftigen. Einige wenige Ungereimtheiten und Lücken stören dabei kaum: Die Gotik wird vor der Romanik platziert; die französischen Zitate werden nicht übersetzt (in der Komparatistik durchaus üblich, aber trotzdem das mögliche Zielpublikum verkleinernd); das „narrative Potential“ von Victor Hugos Haus in Guernsey sei „eher schwach ausgeprägt“ (S. 167) – warum, wird nicht deutlich –, das Haus könne aber „ähnlich wie Hugos literarische Texte interpretiert werden“ (S. 182); Monika Schmitz-Emans' Arbeiten zu Buchobjekten, die die Analysen von Doug Dorsts und J. J. Abrams' S. vielleicht noch vertiefen hätten können, vermisst man ein wenig. Trotzdem stimmt man Jasmin Pfeiffer aber gerne zu, wenn sie schreibt, „dass sich aus der Berücksichtigung der Materialitäten, Objekte und Räume ein hoher interpretatorischer Mehrwert ergibt“ (S. 214). Die Lektüre ihrer Dissertation bestätigt das und soll den an Gegenwartskunst und an intermedialen wie „intermaterialen“ (S. 28) Phänomenen interessierten Literatur-, Medien- und Kulturwissenschaftler*innen wärmstens anempfohlen werden.
Martin Sexl (September 2021)