VI
Zu Hause ging alles unvermindert seinen gewohnten Gang. Der Roman über die Risse im Putz der Gesellschaft wuchs unter Schwierigkeiten, aber stetig, die Semmeln und der Kaffee standen jeden Morgen bereit. Nur etwas irritierte Tynner in letzter Zeit: Frau Rippe schien das Parfüm gewechselt zu haben, das heißt, sie benutzte eigentlich nie ein Parfum, sondern roch nur leicht nach Schweiß, was man den Räumen, in denen sie sich aufgehalten hatte, trotz der Putzmittel auch nach einiger Zeit noch anroch. In den letzten Tagen hatte sich dieser Geruch etwas verändert, ohne daß Tynner genau hätte sagen können, wie. Einmal war er auf ein Haar gestoßen, das in der Küche auf der Anrichte liegengeblieben war. Dieses Haar war überraschend hell, aber nicht grau, und ziemlich lang. So etwas war Frau Ripp bis jetzt noch nie passiert, sie war ansonsten die Reinlichkeit in Person.
Tynners Schlaflosigkeit wurde immer schlimmer, obwohl seine Lebensverhältnisse doch im großen und ganzen geregelt waren und er keinen Grund zur Beunruhigung gehabt hätte. Er wußte im Prinzip, wie jeder Mensch, daß er einmal sterben müßte, die Frage war nur, wann und wie. Jedes jahr Anfang August hatte Tynner jedoch heftige Attacken von Todesangst. Er war als Kind um diese Zeit einmal während einer schweren Lungenentzündung knapp dem Tode entronnen, seither kam die Angst jedes Jahr wieder. Schon einige Zeit vor dem kritischen Datum kam er morgens kaum aus dem Bett und lag noch eine Viertelstunde länger als sonst unter der Decke. Seine Wanderungen durch die nächtliche Wohnung wurden immer ausgedehnter, er nahm immer häufiger ein Buch aus dem Regal und blätterte darin herum. Einmal erwischte er das Traumbuch von Gyula Krudy, in dem aus allen möglichen Dingen mechanische Schlüsse auf die Zukunft gezogen wurden. (S. 23f.)
© 1996, S. Fischer, Frankfurt / Main.
Publikation mit freundlicher Genehmigung des Verlags.