Ich wählte die Nummer. Roaming-Gebühren, dachte ich müde.
– Stennitzer?
– Frau Stennitzer, wie geht es Ihnen?
– Oh, Herr Setz! Danke, dass Sie zurückrufen. Ich hoffe, ich störe Sie nicht bei etwas Wichtigem.
– Nein, ich bin nur gerade in … ach egal. Was kann ich für Sie tun?
– Sind Sie sicher, dass ich Sie nicht störe? Sind Sie vielleicht gerade unterwegs? Oder im Ausland?
– Nein, alles okay, ich bin zu Hause.
– Sicher?
– Ja, ich bin mir Sicher.
– Okay, sagte sie. Zu Hause. Ja, also … Ich wollte Ihnen nur sagen, dass alles glücklich verlaufen ist.
– Was denn?
– Ach, Herr Setz, sagte sie kichernd, als hätte ich einen Scherz gemacht. Na ja, Sie können sich sicher vorstellen, was so ein Transfer für einen jungen Menschen wie Christoph bedeutet. Er ist innerlich so eigenartig, wissen Sie. Er ist nicht wie andere Menschen, er ist eher wie eine Landschaft, das heißt ganz in seinem Inneren, manchmal kommt er mir vor wie eines dieser Lagerhäuser von großen Betrieben, was weiß ich, IKEA oder Ähnliches, diese Hallen entlang irgendwelcher Straßen, die alle aus der Stadt hinausführen, verbaute Areale, wo man nichts geborgenes, keinerlei Anhaltspunkt findet, außer vielleicht ein paar grasbewachsene Streifen, wissen Sie? So wie diese kleinen Grüninseln zwischen den Parkplätzen. Aber sonst … nur Hallen und schmutziger, nasser Stahl und Industriemüll auf Gabelstaplern und so weiter, wie in der Anfangssequenz von diesem schrecklichen, düsteren russischen Science-Fiction-Film, mein Gott, den hab ich vor Jahren einmal gesehen, und seither habe ich immer Angst, dass ich eines Nachts beim Herumzappen plötzlich wieder hineingerate. Ich schalte meistens sofort weiter, wenn ich auf einen Schwarzweißfilm stoße und die Schauspieler nicht sofort erkenne.
Ich goss mir noch einmal Wasser über den Kopf. Dabei musste ich das Handy ein wenig in die Höhe halten, damit es nicht nass wurde. Die Charakterisierung von Christophs Innenleben hatte mich durcheinandergebracht. Wieder hatte ich das Gefühl, eine vorbereitete Aussage, wie sie ein gekaufter Zeuge vor Gericht macht, gehört zu haben. Und mir ging ein Satz aus Josef Winklers erstem Roman durch den Kopf: Ich bin menschenleer. Der Zeitpunkt, an dem ein Wesen tatsächlich aufhört, sich von anderen bewohnt und bevölkert vorzukommen, und dieser beängstigende Punkt in der Geschichte, als den Menschen klar wurde, dass sie keine Homunculi in sich trugen, dass der Mann in seiner Samenflüssigkeit keine mikroskopischen Kopien seiner selbst in die Frau einpflanzte, die dann in gleichbleibender Proportion vor sich hin wachsen. Wie muss sich diese plötzliche Erkenntnis angefühlt haben, dass wir von Aliens bewohnt werden, Bakterienkulturen und Hautmilben, die sich von abgestorbenen Schuppen und Zellen ernähren und den ganzen Tag, wie treue Hausmeister oder Platzwarte, auf einem winzigen Hautareal, das wahrscheinlich nicht viel größer als eine Briefmarke ist, herumwandern und ihre mechanische Abgrasarbeit verrichten? Die Diskussion in Swifts Gulliver fiel mir ein, wo Gelehrte des Hofs von Brobdingnag, des Landes der Riesen, darüber diskutieren, ob dieser kleine Mensch, den sie in einem Feld gefunden haben, nun eine Art Automaton, ein sprachgelehrtes Uhrwerk ohne Seele, oder tatsächlich ein Mensch sei. Wenn ich mich recht erinnerte, wird die Streitfrage, trotz Gullivers Fähigkeit zur intelligenten Interaktion mit den Gelehrten, erst durch die Vermessung seiner Glieder zu seinen Gunsten entschieden. Ich betrachtete meine schaumige Hand, von der die Wassertropfen fielen. Und hatte nicht der Arzt Sir Thomas Browne im siebzehnten Jahrhundert in einer Abhandlung von seinem seltsamen Schauder berichtet, als er beim Sezieren eines Gehirns eine Windung entdeckte, die ihn – auf ähnliche Weise, wie es der Mann im Mond schon seit Jahrhunderten tut – selbst bei geringem Fantasieaufgebot an eine winzige menschliche Gestalt erinnerte, eine Art stille, nicht mehr benötigte Bauanleitung für das Ganze, das tot vor ihm auf dem Operationstisch lag? Bestimmt hatte er sich gefragt, ob nicht auch in seinem Gehirn so eine Form vorhanden war, die in diesem Augenblick die exakt gleichen Bewegungen (das Schneiden, das Durchtrennen von Gewebe, das Festhalten, Drehen und bei Licht Studieren) ausführte wie er und vielleicht zu diesem unerhörten Kunststück wiederum einer verkleinerten Version ihrer selbst bedurfte, und immer so weiter, bis in alle Ewigkeit, ein fraktaler Vorgang wie bei Benoit Mandelbrots heiligem Apfelmännchen, das nach langem, langem Tiefenzoom durch die Randbezirke seiner verschiedenfarbig schillernden Täler und Seen und Inseln uns immer wieder sich selbst präsentiert, in seiner Winzigkeit wunderbar konserviert und identisch mit dem Großen, eine in beide Richtungen fortsetzbare unendliche Reihe.
– Hallo? Sind Sie noch da?
(S. 412–415)
© 2012 Suhrkamp Verlag, Berlin.