Leseprobe:
Nachschrift
Wie vereinbart sitze ich nicht lange vor seinem Tod 2008 an einem recht trüben Samtagvormittag dem rüstigen Pensionisten Stefan Schachermayr in seiner Welser Hochhauswohnung gegenüber. Wir haben im Wohnzimmer Platz genommen. Es ist tiefer Winter. Der verwitwete Gauinspekteur von Oberdonau außer Dienst, inzwischen Mitte neunzig und geistig erstaunlich fit, zeigt sich bester Laune, erinnert sich noch gut an Weyer und das asoziale Menschenmaterial, das dort erzogen werden sollte. Ungebrochen ist er von der Sinnhaftigkeit dieser von ihm mitinitiierten Besserungseinrichtung überzeugt, verwendet, als ich von Mord und Totschlag spreche, lieber Formulierungen wie »einzelne Übergriffe« oder »übertriebene Strafen«.
Ich lege ihm als Belege ausgewählte Originaldokumente vor, etwa Schilderungen grausamster Folterungen sowie seine eigenen schriftlichen Drohgebärden gegen die unerschrockene Staatsanwaltschaft. Anfangs nimmt der alte Mann die Schriftstücke interessiert und konzentriert unter die Lupe. Nur selten kommt ihm dabei ein »Mhm« aus. Mir bleibt viel Zeit, ihn zu beobachten. Irgendwann merke ich, wie er doch nervös zu werden beginnt, und denke mir: Kein Wunder. Mehrmals schaut Schachermayr jetzt kurz hintereinander auf die Uhr, womöglich hat er genug und möchte mich bald hinauskomplimentieren.
Dann aber steht er plötzlich auf sucht sich auf der Anrichte die Fernbedienung und schaltet den Fernseher ein. Erst beim Zurückschlapfen meint er, wir müssten jetzt für eine Dreiviertelstunde unterbrechen, weil er sich den Abfahrtslauf der Herren anschauen wolle.
(S. 185)
© 2020 Czernin Verlag, Wien