"Zuerst will ich das Meer sehen", erklärt Irina, und der Klang ihrer Stimme scheint Milo verändert, selbstsicher und bestimmt. Er willigt ein. Rasch läuft sie voraus, folgt der Beschilderung, die den Weg zum Strand weist, sodass er Mühe hat, ihr zu folgen. Seine Muskeln sind vom langen Sitzen verkrampft und seine Beine steif. Irina läuft eine Düne hinauf, zieht oben angekommen Turnschuhe und Socken von den Füßen und wirft beides von sich. Sie läuft hinunter, breitet die Arme aus, legt den Kopf in den Nacken und schreit einen Jubelruf, der Milo an das befreite Trällern eines eben aus seinem Käfig entschlüpften Vogels denken lässt. Sie wirft sich zu Boden, rollt die letzten Meter, bleibt am ebenen Strand sitzen, spuckt prustend Sandkörner und Steinchen, und er lacht wie schon lange nicht.
Danach sammelt sie Muscheln, Schneckenhäuser, die harten Überreste von Tintenfischen, läuft knietief in die Wellen, benetzt ihr Gesicht mit dem Salzwasser, leckt ihre Lippen, spuckt aus, als fühlte sie zum ersten Mal seit vielen Jahren das Leben. Milo versucht nicht, sie zurückzuhalten, drängt nicht, ein Schiff zu finden, das sie über das Meer bringen soll, beobachtet sie nur, weil er das Gefühl hat, ihr Verhalten tue ihr gut. Irina türmt das gesammelte Strandgut zu einem Haufen, setzt sich darauf, und die Gehäuse der Schalentiere brechen unter ihrem Gewicht. Milo hört das Splittern der kalkigen Gebilde, sieht Irina still weinen, und es scheint ihm, als wären es gute Tränen. Sie hockt sich neben die Bruchstücke und ruft ihn zu sich.
Barfuß sitzen sie an der oberen Wasserlinie. Nur die Ausläufer der höchsten Wellen umspülen ihre Zehen, deren Haut sich bald rötet, und sie sehen auf das Meer hinaus, dessen Oberfläche das Grau des bedeckten Himmels reflektiert. Möwen schaukeln weit draußen zwischen den Schaumkronen, sind helle Punkte auf dunklerem Grund, und Milo schließt die Augen, fühlt die reinigende Kälte, die Kraft von Wellen, Wasser und Wind.
(S. 198f)
© 2013, Picus Verlag, Wien