Alfred läßt nicht locker, er will mir Venezuela vorstellen, die vor sieben Jahren noch ein Mann war. Männer, die zu Frauen werden, sagt er, haben eine besondere Begabung, sie sehen durch die alltäglichen Grenzwälle hindurch.
Venezuela hat dieselben Augen wie jedermensch: eine grüne Durchsichtigkeit, die sich bei näherem Hinsehen als undurchsichtig erweist. Sie hat einen Gang wie eine Giraffe, alle vier Füße sind dabei. Sie geht im Paßgang mit glänzenden Beinen, die Strümpfe wie von Toulouse-Lautrec, aus den Stöckelschuhen entstehen geschmackvolle Waden. Die übereinandergeschlagenen Beine am Sofa, Pariser Bordelle, Gaslichter, Champagner, sie führt Turnübungen vor: man muß die Beine zierlich anziehen bis zur Nasenspitze, das festigt den wohlig unter den Händen schnurrenden Bauch. Ich sehe sofort, daß Venzuela das teurere Kleid anhat, daß ihre Dauerwelle gewissenhafter gefärbt ist, daß ihre Fingernägel aus dem Alltag herausleuchten und für Bühnenauftrittsapplaus lackiert, verlängert und zugespitzt sind. Soviel Weiblichkeit raubt mir den Körper, nehme ich etwa mein Frausein nicht ernst? Alfred nickt zustimmend, wenn Venezuela wie eine Gazelle, ein schlankes und schön bemaltes Okapi, sich in den Lichteffekten des Zimmers bewegt, den Hals dreht, ihre ziersame Gestensorgfalt beweist. Wenn sie zeigt, wie man die ischiocrurale Muskulatur dehnt, indem man sich, den kurzen Rockschwang nach oben verlüftend, vornüber verbeugt. Ich sehe sofort, sie will eine Hexe sein, eine mächtige Baba Yaga im Wald sein, sie wohnt in einem Außenbezirkshaus, an dem der Wein sich betört, mit etlichen Bäumen im Garten, also beinahe im Wald. Sie wohnt in einem Haus, das ich mit einer engstirnigen Hamsterhöhle vergleiche, alles Wissen ist eingesammelt über die Pyramiden, den Planetensog, über den Nährwert von Plankton, Gravität und Gravitationen, die esoterische Physik und die hysterische Meditationsastrologie, die gottverdammte Theologie und die deutsche Bundeslegislatur, es ist für keine neue Erkenntnis mehr Platz. Venezuela erzählt von Kongressen und Thesen, es gödelt, eschert und bacht, es blocht, foucault, poppert und jungt, es duerrt durcheinander, mit Feyerabend ist noch lange nicht Schluß, an einem Mäander wird Margaret Mead in den Fluß der Geschichte getunkt. (S. 28f.)
© 2000, Droschl, Graz, Wien.
Publikation mit freundlicher Genehmigung des Verlags.